Hagen. . Es gibt viele Gründe, warum immer mehr Menschen übers 65. Lebensjahr hinaus arbeiten. Mini-Renten trotz vieler Jahrzehnte im Beruf sind aber ein Faktor.

Die Zahlen sind eindeutig: Immer mehr Menschen arbeiten auch übers Rentenalter hinaus. Widersprüchlich kommen dagegen die Interpretationen daher: Während das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) von den guten Beschäftigungsperspektiven spricht, zeigen sich die Gewerkschaften alarmiert über die wachsende Zahl von Mini-Renten. Das Verzwickte ist: Es gibt tatsächlich alles. Die einen wollen noch arbeiten, die anderen müssen, und viele liegen irgendwo dazwischen.

Der Pförtner

Udo Schlaak positioniert sich eindeutig. „Ich arbeite nicht aus Langeweile, sondern bin dazu gezwungen“, sagt der 75-Jährige. „Mit 805 Euro Rente allein kann ich keine großen Sprünge machen.“ Deshalb ist er froh, dass er sich als Pförtner noch etwas dazuverdienen kann. Bis zu 8600 Euro im Jahr. Sonst würde die Rente besteuert.

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Und warum ist die nicht höher? Arbeitslosigkeit? „Nur ein Jahr lang“, sagt der gebürtige Görlitzer, der seit 1952 in Hagen lebt. Aber er hat nie besonders gut verdient. Der gelernte Kaufmann hat in der Möbelbranche angefangen, dann als Heimleiter für den CVJM gearbeitet, anschließend lange in der Geschäftsführung der Hagener Bahnhofsbuchhandlung. Bis die schloss. Da war Udo Schlaak 47. Und das war den meisten Arbeitgebern schon zu alt. So landete er beim Wachdienst. Und ist 28 Jahre später immer noch dabei.

Er will über die Arbeit nicht klagen: „Ich hatte das Glück, häufig in Firmen tätig zu sein, wo man gut beschäftigt war.“ Rumsitzen und warten, dass die Zeit vergeht, liegt ihm nicht. Privat ist Schlaak im Vorstand der Karl-Halle-Gesellschaft engagiert, die das Andenken des aus Hagen stammenden Musikers (1819 bis 1895) pflegt. Er wüsste mit seiner Zeit schon etwas anzufangen. „Aber so lange es geht, will ich weiter arbeiten,“ sagt er, und einschränkend: „Man merkt schon, dass man älter wird.“

Der Arzt

Dr. Martin Junker gehört einer Berufsgruppe an, die besonders häufig bis ins höhere Alter arbeitet. „Und nur in ganz seltenen Fällen aus Geldnot“, betont der 68-jährige Facharzt für Allgemeinmedizin aus Olpe. Ein häufigeres Motiv sei der Wunsch, die Patienten nicht im Stich zu lassen: „Es gibt in Südwestfalen eine ganze Reihe von Kinderärzten, Neurologen, Augen- und HNO-Ärzten, die verzweifelt nach Nachfolgern suchen.“ Junker kennt sich aus in dem Feld, ist seit mehr als 30 Jahren auch berufspolitisch aktiv. „Unser Gesundheitssystem funktioniert doch nur noch, weil die Alten die Griffel nicht fallen lassen“, sagt er. Bis vor ein paar Jahren war mit 68 Jahren die Kassenzulassung weg. „Aber jetzt werden wir wieder gebraucht.“ Auch in Krankenhäusern hielten ältere Kollegen, die ihre Praxis aufgegeben hätten, als Honorarärzte den Stationsbetrieb aufrecht.

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Er selbst wollte eigentlich schon vor ein paar Jahren aufhören. Aber jetzt macht er noch weiter, bis seine Tochter ihre Weiterbildungszeit beendet hat und die Praxis übernehmen kann. Er will ihren Einstieg begleiten, ihr zur Seite stehen, sie vertreten und sich nach und nach zurückziehen. So ähnlich hat er es selbst mit seinem Vater erlebt: „Das war die schönste Zeit. Damals konnte ich nur Arzt sein, und mein Vater hat die Büroarbeit gemacht.“

Das stört ihn heute: die zunehmende Bürokratie. Der Kontakt mit den Patienten, die Hausbesuche, die Kenntnisse der Familien und des sozialen Umfelds – das macht ihm immer noch viel Spaß. Das ist ihm eine innere Aufgabe. Und er weiß auch: „Es ist ein Privileg, weiterarbeiten zu können.“ Er erlebt in seiner Praxis, wie rabiat Menschen altern können, wenn ihnen mit der Arbeit auch der Lebensinhalt verloren geht und wie fit 80-Jährige sein können, die geistig und körperlich immer aktiv waren.

Die Zeitungsbotin

Mangelnde Aktivität kann man Helga Becker sicherlich nicht vorwerfen. Sechs Mal in der Woche klingelt der Wecker um 2 Uhr nachts. Dann fährt sie mit ihrem Mann zum Depot, um die Zeitungen abzuholen. Und wenn die pünktlich da sind, wenn Eis und Schnee ihre Tour nicht behindern, dann hat sie in anderthalb Stunden 110 Haushalte in Gevelsberg-Silschede versorgt und ist um vier Uhr wieder zu Hause. „Meine tägliche Jogging-Runde“, scherzt die 66-Jährige.

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Das nächtliche Aufstehen fällt ihr nicht schwer. Was auch an der Gewohnheit liegt: Seit 1995 zieht Helga Becker ihren „Hacken-Porsche“, wie sie ihren Trolley nennt, durch die Nachbarschaft. Und immerhin muss sie seit zweieinhalb Jahren anschließend nicht mehr zur Arbeit nach Wuppertal. Sie ist Verkäuferin gewesen. 48 Berufsjahre, 38 davon in Vollzeit. Sie ist mit ihrer Rente nicht unzufrieden: „Das ist mehr, als ich vorher netto hatte.“ Allerdings ohne Urlaubs- und Weihnachtsgeld. „Und man hat ja auch noch Wünsche und Verpflichtungen.“ Sie sammelt Puppen. Und die Doppelhaushälfte ist noch nicht abgezahlt.

Wegen des Hauses hatte ihr Mann angefangen mit dem Zeitungsaustragen. 1993. Da war in seiner Firma die Nachtschicht abgeschafft worden. Und damit auch der Nachtzuschlag. Seitdem versorgt der heute 68-Jährige zwei Zustellbezirke, um über die Runden zu kommen. „Und dann tat er mir so leid, dass ich auch angefangen habe“, sagt Helga Becker. Sie ist froh, dass sie in der eigenen Straße arbeiten kann. Sie kennt 90 Prozent der Kunden persönlich. Und sie hört so bald nicht auf: „Ich will die 25 Jahre voll machen.“ Aber zum Vergnügen ist sie eben auch nicht Nacht für Nacht allein draußen.