Hagen. Xavier de Maistre ist der berühmteste Harfenist der Welt. In Hagen begeistert er beim Sinfoniekonzert das Publikum restlos.

Wie funktioniert Musik in einer Diktatur, die nicht die kleinste Note dem Zufall überlassen will? Das ist eine Frage, die am Schaffen Dmitri Schostakowitschs (1906 – 1975) immer wieder diskutiert wird. Der berühmte russische Komponist war ein unverzichtbarer Imageträger des Sowjet-Regimes in Richtung Westen, aber er geriet wegen Neutönerei häufig ins Kreuzfeuer der Ideologen des „Großen Stalinistischen Terrors“. Denn von einer ordentlichen Sinfonie erwartete Stalin fette Trompetenklänge, laute Trommeln und flotte Marschrhythmen. Die serviert Schostakowitsch ihm 1937 in seiner 5. Sinfonie in einer geradezu subversiven Verpackung. Die Hagener Philharmoniker beweisen jetzt mit einer ergreifenden Interpretation des Werkes, wie sprachmächtig Musik sein kann. Das Publikum feiert ein herausragendes Konzert mit langem Beifall und vielen Bravo-Rufen.

Subversiver Kniefall

Dirigent Alexander Kalajdzic verzichtet von Anfang an auf jedes Pathos. Er nimmt die „Fünfte“ mit ziemlich raschem Tempo, das in seinem lebendigen Puls gleichwohl genau passt. Der Dirigent macht die vielen kontrapunktischen Kompositionstechniken hörbar, das verschiebt die Bedeutungsebene, damit wirkt der Satz plötzlich wie ein Choral, in den die Pauken und Trompeten als verstörendes Kirmesspektakel einbrechen, während die Tuba drohend aus der Tiefe grollt.

Nachdem Schostakowitschs 4. Sinfonie mit Aufführungsverbot belegt wurde, gilt die „Fünfte“ als Kniefall vor dem Regime. Doch es ist Sache der Dirigenten, hörbar zu machen, wie sehr die Partitur jene Erwartungen, die sie an der Oberfläche bedient, im Gefüge unterläuft.

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Das gelingt Alexander Kalajdzic hervorragend, denn er findet den Schüssel zum Werkverständnis im langsamen Satz, den er zum Angelpunkt der ganzen Sinfonie aufwertet. Die Streicher singen hier wie im Gebet, sie rufen die Utopie einer besseren Welt an, die zum Scheitern verurteilt ist. Vor diesem Hintergrund spiegelt sich der Ländler des 2. Satzes als ironische, von den Kontrabässen rasant angeschobene Beschwörung des Volkstümlichen. Aber auch dieser Rückgriff bringt keine Erlösung, der Volkston erweist sich als beschädigt.

Das Finale beginnt dann extrem laut, doch seine Trompetenrufe und Paukenschläge kommen eher erbittert als triumphierend daher. Die Philharmoniker spielen voller Leidenschaft und mit ausgesuchtem Sinn für die vielen Zwischentöne.

Als kleiner Appetithappen kann das Orchester bei Alfred Schnittkes (1934 – 1998) kurzem „Polyphonischem Tango“ zum Auftakt quer durch alle Register beeindruckende solistische Qualitäten beweisen.

Die Harfe erklingt außerordentlich selten als Soloinstrument im Sinfoniekonzert, und hauptberufliche reisende Soloharfenisten sind noch rarer. Der französische Musiker Xavier de Maistre ist der berühmteste und sicherlich auch beste Meister seines Fachs.

Mein Hut, der hat drei Ecken

Mit dem Harfenkonzert von Reinhold Glière (1875 – 1956) bringt er einen völlig neuen Ton in die traditionelle philharmonische Programmplanung. Diese spätromantische, fast schon impressionistische Musik setzt auf den Zauber des Leisen, sie verführt sanft zum Zuhören. Xavier de Maistre macht daraus ein geradezu intimes Hörerlebnis mit betörenden Klangfarben und so außerordentlich virtuos und grundmusikalisch gespielt, dass das Publikum fast das Atmen vergisst. In schwelgerischer, gut abgemischter Klangbalance tritt das Orchester immer wieder in berückende Dialoge mit dem Soloinstrument.

Die Variationen über „Mein Hut, der hat drei Ecken“ als Zugabe (Felix Godefroid / Karneval in Venedig) entlocken der Harfe schließlich derart unerhörte Klänge, dass die Zuhörer gar nicht mehr aufhören wollen, zu applaudieren.