Ennepetal/Schwelm. Eine Ennepetalerin hat ihre Mutter unter schrecklichen Schmerzen sechs Monate lang sterben lassen. Der ganze Fall. Das Urteil des Gerichts.
Qualvoll und unter größten Schmerzen hat eine 41-jährige Ennepetalerin ihre eigene Mutter sterben lassen, weil sie keine Lust hatte, sie zu pflegen, ihre Wunden zu versorgen und ihr etwas zu Essen zu geben. Davon ist das Schwelmer Schöffengericht um Richterin Anna Walther überzeugt. Vier Jahre lautet das Urteil gegen die Türkin, deren Verteidiger auf Freispruch plädiert hatte. Mehr geht nicht an einem Amtsgericht.
Das heißt in diesem Fall aber noch lange nicht, dass die Sache vorbei ist. Sowohl Verteidiger Seyhan Okcu als auch Staatsanwalt Dr. Marco Klein werden sich genau überlegen, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Wohingegen das Ziel des Verteidigers bei einem solchen Schritt nur lauten kann, eine niedrigere Strafe anzusetzen, hat Anklagevertreter Klein schon während seines Plädoyers klar gemacht, wohin für ihn die Reise gehen könnte: „Wenn man diese schreckliche Geschichte juristisch durchdekliniert, dann ploppen durchaus Mordmerkmale auf: Grausamkeit, Heimtücke.“ Seine Behörde sei bei der Anklageerhebung von einer „totalen Überforderung“ der Frau ausgegangen. „Das hat sich hier als ganz anders dargestellt.“
Nichts für schwache Nerven
Der Fall ist nichts für schwache Nerven, beginnt aber zunächst recht unspektakulär: Die damals 73-jährige Mutter der Ennepetalerin wird Ende 2018 durch Rheuma und eine Lebererkrankung bettlägerig. Das Pflegebett steht im Wohnzimmer, die Tochter kümmert sich. „Das wird in unserem Kulturkreis so erwartet. Mich hat keiner gefragt, ob ich sie pflegen will“, sagte die Türkin vor Gericht. Zunächst soll auch alles gut funktioniert haben. Im März 2019 kommt die Mutter das erste Mal ins Krankenhaus. Sie wiegt da bei einer Größe von 1,63 Meter nur noch 41 Kilogramm hat bereits sechs Druckgeschwüre. Eine Wechseldruckmatratze soll helfen, die Tochter – Betreuerin ihrer Mutter – bekommt Beratung und die Empfehlung, der Mutter hochkalorische Getränke zu verabreichen, damit diese Gewicht aufbaut.
Der nächste Krankenhausaufenthalt im Juli. Kurz zuvor sei dem Vater ein Bein amputiert worden, ins Wohnzimmer kam ein zweites Pflegebett. Am 11. Juli ruft der Vater in der Wohnung um Hilfe, Passanten alarmieren die Polizei. Die findet die Mutter in einem desolaten Zustand, bringen diese erneut ins Krankenhaus. Die offenen Stellen am Körper sind deutlich gewachsen. Eine Pflege hat offenkundig nicht stattgefunden. Die Mutter wird jedoch auf eigenen Wunsch aus dem Krankenhaus entlassen. Zwischenzeitlich wird ein Pflegedienst eingeschaltet, nachdem die Tochter lange keinen gefunden hatte. Der dokumentiert täglich, was er vorfindet: Die Mutter in Windeln aus denen das Urin bereits ins Bett läuft. Die offenen Stellen eitern, überziehen den gesamten Körper der Frau. Selbst eine erfahrene Ärztin im Zeugenstand sagt: „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Der medizinische Sachverständige spricht von großen Schmerzen, „die die Frau gehabt haben muss, bis die Wunden eine Tiefe erreicht haben, wo keine Nerven mehr vorhanden waren.“ Immer wieder dokumentierte der Pflegedienst, dass die Wechseldruckmatratze nicht am Strom angeschlossen war. Noch schmerzhafter allerdings ist laut Aussage das gewesen, woran die Frau schließlich gestorben ist.
Nur noch 29 Kilogramm
Die damals 73-jährige muss wochenlang keinen Stuhlgang gehabt haben, so dass sich ein Darmverschluss gebildet hat. Durch den Darm sind Bakterien in den Körper gelangt, dies führte zu einer Bauchfellentzündung und schließlich zu multiplem Organversagen. „Das sind erhebliche Schmerzen und freundlich gesagt ist dies ein sehr unangenehmer Tod.“ Der Pflegedienst hatte Ende Oktober 2019 den Hausarzt alarmiert, der wies die Frau, die da noch 29 Kilogramm wog, erneut ins Schwelmer Helios-Klinikum ein. Dort verstarb sie wenige Tage später.
Während Verteidiger Syhan Okcu betonte: „Meine Mandantin hat ihre Mutter nach bestem Wissen und Gewissen gepflegt“, und die Mediziner sowie die Mitarbeiter des Pflegedienstes in der Pflicht sah, der Frau zu helfen, folgte das Schöffengericht der Argumentation des Staatsanwalts. Der hatte klar gemacht: „Die Frau ist kein medizinischer Notfall, sondern ein Pflegefall gewesen. Für die Pflege war die Tochter verantwortlich. Die hat ihrer Mutter völlig empathielos über Monate ein qualvolles Leid angetan.“ Das Gericht sah am Ende eine fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Körperverletzung. Ob in dieser Sache jedoch mit diesem Urteil schon das letzte Wort gesprochen ist, wird sich in einer Woche entscheiden. So lange läuft die Frist, um Berufung oder Revision einzulegen.