Gevelsberg. Ein Gevelsberger (60) leidet unter Depressionen und wollte sich mit einem Unfall das Leben nehmen. Das Gericht klärt nun die Schuldfähigkeit.

Es ist wahrscheinlich der Alptraum eines jeden Autofahrers: Urplötzlich schert ein anderer Wagen aus dem Gegenverkehr aus und rast auf einen zu. Um das eigene Leben zu retten, bleibt nur ein blitzschnelles und nicht minder gefährliches Ausweichmanöver. Eine sehr ähnliche Situation erlebt vor etwas mehr als drei Jahren eine heute 44-Jährige Pflegerin aus Hagen in Gevelsberg. Francesco C. (heute 60 Jahre alt) kommt der Frau gegen 10 Uhr morgens auf der Haßlinghauser Straße mit – nach eigenen Angaben – 80 Kilometern pro Stunde entgegen. Er will sich durch den Unfall das Leben nehmen.

Die Frau ist aber geistesgegenwärtig und weicht aus. Francesco C. trifft mit seinem VW Polo das Heck ihres Seat Mii und kracht direkt danach in ein geparktes Fahrzeug. Steckte dahinter ein heimtückischer Mordversuch, weil der Gevelsberger den Tod der arg- und wehrlosen Fahrerin in Kauf genommen hat? Dieser Frage versuchte am Montag das Hagener Schwurgericht nachzugehen.

„Ich war an dem Tag arbeiten und auf dem Rückweg ins Büro“, erinnert sich die 44-jährige Pflegerin an den 5. Januar 2018, den Tag des Vorfalls, zurück. „Ich bin von der Hammerstraße aus auf die Haßlinghauser Straße gefahren, da hat mein Arbeitgeber sein Büro.“ Plötzlich habe sie gesehen, dass der ihr entgegenkommende Wagen von seiner Spur auf ihre lenkt.

In Einfahrt ausgewichen

Laut Gericht passiert das auf Höhe der Hausnummer 13. „Als ich gemerkt habe, dass er nicht wieder zurücklenkt, bin ich ganz schnell in die Einfahrt vom Büro ausgewichen“, schildert die Geschädigte weiter. Das ganze Heck ihres Dienstwagens sei kaputt gewesen. Infolge des Unfalls habe sie Verletzungen am Rücken davongetragen. Aber auch psychisch habe ihr das Erlebte zu schaffen gemacht.

„Ich brauchte eine psychologische Betreuung, um das zu verarbeiten“, sagt die Frau. Das sei auch der Grund gewesen, weshalb sie auf der Arbeit bis Ostern ausgefallen sei und dann eine Wiedereingliederung gemacht habe. „Ich habe angefangen zu weinen, wenn ich darüber gesprochen habe.“

Auf einen Entschuldigungsbrief von Francesco C. habe sie nicht reagiert, wie die Pflegerin auf Nachfrage der Vorsitzenden Richterin Heike Hartmann-Garschagen verrät. Francesco C. nutzt die Gelegenheit daher, sich während der Verhandlung auch noch mal persönlich an die Geschädigte zu wenden. „Ich möchte mich für das, was Ihnen passiert ist, entschuldigen“, sagt der 60-jährige Rentner, der sich die meiste Zeit über einen italienischen Dolmetscher äußert.

„Ich war damals nicht bei Sinnen. Ich danke Gott, dass wir am Leben sind und tue alles dafür, dass das nicht wieder passiert“, hatte er außerdem in seinem Entschuldigungsbrief geschrieben, der während der Verhandlung ebenfalls verlesen wird.

Psychiatrisches Gutachten

„Ich nehme die Entschuldigung an“, sagt die 44-jährige, die den genauen Hintergrund bislang aber noch gar nicht kennt. „Ich möchte gerne wissen, warum Sie das getan haben?“, wendet sie sich also direkt an den Angeklagten. Richterin Hartmann-Garschagen antwortet für ihn: „Der Angeklagte litt unter schweren Depressionen und wollte sich umbringen.“ Das habe sie sich schon gedacht, erklärt die Hagenerin darauf. „Und dass vielleicht Medikamente im Spiel sind“, schiebt sie hinterher. Den Vorwurf des versuchten Mordes sehe sie eigentlich nicht. „Als ich das gelesen habe, dachte ich mir, dass das schon eine Nummer ist“, sagt sie.

Prozessauftakt immer wieder verschoben

Die Tat ereignete sich bereits am 5. Januar des Jahres 2018, wird aber erst jetzt verhandelt, weil einem Prozessauftakt immer wieder Taten im Wege standen, in denen der Angeklagte im Gegensatz zu Francesco C. inhaftiert war und dementsprechende Fristen einzuhalten waren, die bei dieser Tat nicht existieren.

Das Urteil kann am Dienstag, 4. Mai, in der Verhandlung ab 10.30 Uhr gesprochen werden.

Daher rückt bei der Verhandlung auch die Frage der Schuldfähigkeit in den Vordergrund. Dr. Harald Hippler, der als forensisch-psychiatrischer Sachverständiger im Saal sitzt, bescheinigt Francesco C., eine krankhafte depressive Störung zu haben und demenziell erkrankt zu sein.

Der 56-Jährige gibt vor Gericht aber auch zu bedenken, dass manche Tests nicht hätten durchgeführt werden können, weil der Angeklagte sie trotz des Dolmetschers nicht verstanden habe. Ein Eindruck, den dieser zeitweise auch während der Verhandlung macht. So ordnet Richterin Hartmann-Garschagen eine Pause an, damit der Angeklagte sich mit seinem Verteidiger Marius Mell noch einmal absprechen kann.

Medikamente nachgewiesen

Weitere Zeugenaussagen ergänzen das Bild des Geschehens im Januar 2018. So berichtet ein Toxikologe und Chemiker, der Francesco C. nach dem Unfall untersucht hatte, dass dieser unter anderem Sertralin im Blut hatte, eine Arznei, die zur Behandlung von depressiven Erkrankungen und/oder Angststörungen dient. Auch Cetirizin, ein Mittel zur Linderung von allergischen Beschwerden und Benzodiazepine, verschreibungspflichtige Medikamente, die als Schlaf- oder Beruhigungsmittel eingesetzt werden, sind laut Gutachten beim Angeklagten nachgewiesen worden. „Bei Cetirizin kann Müdigkeit auftreten, die auch die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen kann“, erklärt der Toxikologe.

„Das Antidepressivum kann bei ärztlicher Verschreibung an jemanden, der depressiv ist, die Fahrtüchtigkeit auch positiv beeinflussen.“ Direkt nach dem Unfall habe der 60-Jährige desorientiert gewirkt, erklären mehrere Zeugen, darunter auch der Arzt, der Francesco C. im Krankenhaus in Schwelm behandelte. „Es wurde klar, dass er Depressionen hat“, so der 35-Jährige. „Auf meine Frage, ob er suizidale Gedanken hat, hat er geantwortet, dass er den Unfall absichtlich gemacht habe.“

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Daraufhin habe er den Angeklagten nach Rücksprache mit einem Psychologen in eine Einrichtung nach Herdecke verlegt. In psychiatrischer Behandlung befindet Francesco C. sich schon seit etwa 15 Jahren. Am Tag des Unfalls war er noch nicht lange aus einem entsprechenden Krankenhaus entlassen. „Ich bin an diesem Morgen ins Auto gestiegen, um mich umzubringen, aber ich war krank im Kopf“, gibt der 60-Jährige während der Verhandlung zu.

Anwälte sprechen Plädoyers

Auch sei ihm klar gewesen, dass er die 44-jährige Geschädigte hätte umbringen können. „Ich habe in dem Moment aber nichts verstanden“, erklärt er. An alle Details konnte er sich nach eigener Aussage nicht mehr erinnern. Francesco C. befindet sich seit dem Vorfall in psychologischer Behandlung und nimmt weiter Medikamente. Das bestätigt auch seine Betreuerin, die sagt, dass die Arbeit mit ihm unkompliziert laufe. Strafrechtlich ist Francesco C. bisher ebenso wenig in Erscheinung getreten.

Seinen Führerschein soll er nach dem Unfall freiwillig abgegeben haben. „Mir geht es jetzt gut“, sagt er am Montag. Staatsanwältin Beatriz Föhring plädiert am Ende des ersten Verhandlungstages auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung und den Einzug seines Führerscheins. Verteidiger Mell spricht sich für ein Jahr und acht Monate auf Bewährung aus.Weiterer Bericht folgt.