Gevelsberg. Gevelsberger Arzt kritisiert die Impfstrategie und fordert, dass Kliniken und ihre Mitarbeiter besser geschützt werden.

Der Gevelsberger Dr. Michael Schulte-Hermes arbeitet als Internist und Intensivmediziner in einem Krankenhaus in Recklinghausen. Den ersten Corona-Patienten auf der Intensivstation behandelten er und sein Team am 18. März 2020. Seitdem hat die Krankheit den medizinischen Alltag bestimmt, so wie in jeder Klinik des Landes. Nur im Sommer gab es eine kurze Verschnaufpause, dann kam die zweite Welle. Er fühlt sich von der Landespolitik allein gelassen und ist maßlos enttäuscht. Er spricht jetzt nicht als Arzt, sondern als Kollege, Vater und Ehemann, als jemand, der sich um seine Familie und seine Mitarbeiter sorgt. Politik werde in diesen Zeiten schon genug gemacht. Und leider auch nicht immer die richtige. Zumindest in NRW. Er kritisiert die Impfstrategie und fordert, dass Kliniken und ihre Mitarbeiter besser geschützt werden.

Mehr als 100 anerkannte Wissenschaftler des Landes bestehend aus Ethikrat, Leopoldina und des Robert-Koch-Instituts hätten die Reihenfolge für die ersten Impfungen festgelegt. Bis auf NRW würden sich alle Bundesländer auch annähernd daran halten, sagt Dr. Schulte-Hermes. Dort würden Heimbewohner, das dortige Pflegepersonal und das hoch gefährdete Klinikpersonal in den Notaufnahmen, den Intensiv- und den Coronastationen gleichzeitig geimpft. Eine Priorisierung innerhalb dieser Gruppen gebe es nicht. Nur hier in NRW wurde die Gruppe der Heimbewohner allen vorgezogen.

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„Als Arzt bin ich mit einem Team aus Pflegekräften und Ärzten in dauernden Einsatz für unsere Corona-Patienten. Täglich stehen wir in infektiösem Aerosol und riskieren unsere Gesundheit. Laut der Empfehlungen der Wissenschaftler hätten wir schon längst geimpft sein müssen, so wie es in sämtlichen anderen Bundesländern geschehen ist. Nicht nach den Heimbewohnern, sondern parallel zu ihnen und den anderen Gruppen, die laut RKI Empfehlung in einer ersten Stufe geimpft hätten werden müssen. Fair und solidarisch, so wie es die Politik immer eingefordert hat.“ Doch das sei nicht passiert. Der Internist ärgert sich: „Deutlicher hätte Minister Laumann seine Geringschätzung unserer Arbeit in den vergangenen Monaten nicht ausdrücken können als mit der Vorenthaltung der Impfung.“

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Menschen, die an vorderster Stelle mit Corona-Patienten arbeiten, seien besonders gefährdet. Trotz Schutzausrüstung und Einhaltung aller Vorgaben – „eine FFP2-Maske schützt eben nur zu 94 Prozent vor Viren“, sagt er und nennt Portugal als Beispiel. In dem Land sei laut Medienberichten bis zu 70 Prozent des Pflegepersonals erkrankt, die Situation gerate außer Kontrolle. Doch auch hier sei die Lage ernst, das zeigten die Ausbrüche in den Kliniken in den vergangenen Wochen wie Hattingen, Witten, Schwelm. „Die Folge daraus, der Notbetrieb trifft nicht nur die Corona-Patienten, sondern gefährdet auch die Versorgung von Patienten mit Herzinfarkt, Schlaganfall und somit die gesamte Bevölkerung. Hier wurden die Klinikmitarbeiter schutzlos gelassen.“

NRW beim Impfen Schlusslicht

Er könne nicht ins Homeoffice gehen, die Schwiegereltern müssten bei der Kinderbetreuung wegen der geschlossenen Schulen helfen. „Ich, aber auch sämtliche Kollegen in der gleichen Lage, bringe sie dadurch auch tagtäglich in Gefahr, denn wenn ich erkrankt nach Hause komme, kann das Virus über meine Tochter auf meine ganze Familie übergehen. Und die gehören auch zur Risikogruppe.“, sagt er.

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Dr. Michael Schulte-Hermes kritisiert nicht nur die Reihenfolge der Impfung, sondern auch den Umgang mit dem Impfstoff. Er sagt: In NRW jedoch sei der durchaus vorhandene Impfstoff nicht sofort verimpft worden, sondern es wurde eine umfangreiche 1 zu 1 Lagerung von über 250.000 Dosen für die Zweitimpfung in den Heimen angeordnet, weswegen NRW eine Schlusslichtposition in der Zahl der Impfungen in Deutschland einnimmt, erklärt der Gevelsberger.

Sicherlich sei ein gewisser Lagerbestand sinnvoll, um auf Lieferengpässe zu reagieren, aber die Zahl der zurückgehaltenen Impfdosen sollte schon gegen den Nutzen einer raschen Immunisierung der Bevölkerung und der kritischen Infrastruktur abgewogen werden. Die meisten Bundesländer halten in etwa 35 Prozent zurück, der Rest werde verimpft. Die anderen Länder hätten begriffen: „Der Zeitfaktor ist entscheidend.“ Für alle Beteiligten.

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Der Wunsch nach einem Impftermin ist groß. 
Von Carmen Thomaschewski

Und in NRW? Erst knapp einen Monat nach Beginn der Impfungen, hätte es den Impf-Termin für seine Klinik gegeben. Wenige Stunden bevor es losging, wurde dieser lapidar per Email abgesagt. Weil kein Impfstoff geliefert wurde.

Jetzt steht der nächste Termin an. Erst Ende Februar, nach der Zweitimpfung, bestehe Schutz. Und bis dahin würden alle weiterhin ihr Bestes geben, weniger geschützt sein, als sie es hätten sein können. Und warum? „Weil der NRW-Gesundheitsminister seine eigene Meinung über die der über 100 besten Wissenschaftler des Landes und ihrer drei Fachgesellschaften gestellt hat.“

Die Prioritätenliste

Zur ersten Gruppe der zu Impfenden zählen: Über 80-Jährige, Personen im Pflegeheimen und deren Pflegekräfte, Pflegekräfte im ambulanten Bereich und Beschäftige mit hohem Expositionsrisiko für eine Coronavirusinfektion (z.B. Intensivstationen, Notaufnahmen, Coronavirus-Isolationsstationen, Rettungsdienst uvm.).V.), sowie Beschäftigte in der Versorgung vulnerabler Patienten (Onkologie, Transplantationsmedizin).

Am Montag, 8. Februar, werden die ersten Menschen im Impfzentrum geimpft.

Natürlich sei es wichtig in Altenheimen zu impfen, aber nicht nur exklusiv dort. Schulte-Hermes vermisst die von der Politik so oft beschworene Verlässlichkeit, Fairness und Solidarität. „Ich hoffe nur, dass uns in NRW die drohende dritte Welle mit einem mutierten Virus nicht treffen wird, denn in den Kliniken sind die Mitarbeiter nicht flächendeckend geimpft.“