Gevelsberg. Dramatische Aussagen kommen von den AWo-Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, u.a. in Gevelsberg. Die Auftragslage ist massiv eingebrochen.
Weil in der Corona-Zeit weniger Aufträge zu erledigen sind, stellen viele Firmen auf Kurzarbeit um. Aber: Es gibt Betriebe, die die Arbeit trotz voller Auftragsbücher sogar ganz einstellen mussten. So wie die AWo-Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Für die Einrichtungen und die dort Beschäftigten ist die Pandemie ein schwerer Schlag.
Das Schicksal schlug per Erlass zu. Herausgegeben vom Land NRW und mit der Folge, dass wegen der Corona-Pandemie für Menschen mit Behinderungen ab sofort ein Betretungsverbot in den Werkstätten gilt. Das war am 16. März. Seitdem ist Schicht im Schacht beim Werkstattverbund des AWo-Unterbezirks Ennepe-Ruhr. Stillstand herrscht seitdem in der Werkstatt Stefansbecke in Sprockhövel, in der Werkstatt Asbeck an der Neuenlander Straße in Gevelsberg sowie in der Werkstatt für Elektrotechnik in Sprockhövel.
Unmittelbare Folgen
Die Folgen trafen die Einrichtungen unmittelbar und sind verheerend. „Kaum mussten wir den Betrieb in unseren Werkstätten weitgehend einstellen, haben Kunden sofort ihre Aufträge zurückgezogen. Weit über die Hälfte unserer Produktionsaufträge ist weggebrochen. Das wird uns längerfristig sehr wehtun und ich weiß nicht,wie wir das in den Griff bekommen sollen“, blickte Michael Stecken, Leiter des Fachbereiches „Werkstätten für Menschen mit Behinderungen“ bei der AWO EN, schon nach wenigen Tagen voller Sorge in die Zukunft. Wie AWo-Geschäftsführer Jochen Winter später nachlegte, hat sich die Lage seitdem keinen Deut verbessert.
Betroffen sind rund 600 Menschen mit Behinderung und weitere 120 Fachkräfte, Produktionshelfer und Mitarbeiter im Sozialen Dienst, die ihnen bei ihrer Arbeit zur Seite stehen. Da dies nicht mehr nötig ist, werden die AWo-Mitarbeiter aktuell für die Betreuung in den Wohnheimen und bei den Familien eingesetzt, wo es seit dem Betriebsstillstand einen erhöhten Bedarf dafür gibt. Von der Bezahlung her habe sich für sie nichts geändert, erklärte AWo-Geschäftsführer Jochen Winter.
Anders sieht das für die Menschen mit Behinderung aus, die in den Werkstätten tätig sind und dafür einen Lohn erhalten. Zwar gibt es weiterhin die unterstützenden Zahlungen beispielsweise des Landesverbandes an den Werkstattverbund. Aber: „Die Löhne für die Werkstattbeschäftigten, Strom, Mieten und anderes müssen wir komplett mit den Einnahmen aus unserer Produktion erwirtschaften. Wie soll das gehen, wenn wir nicht produzieren?“, fragt Fachbereichsleiter Michael Stecken.
Der Werkstattverbund in Zahlen
In der Werkstatt Asbeck arbeiten aktuell rund 200 Menschen mit Behinderungen, in der Werkstatt Stefansbecke in Sprockhövel sind es ca. 240 und in der Werkstatt Elektrotechnik, ebenfalls in Sprockhövel, sind rund 100 beschäftigt.
Es gibt zwar eine Lohnrücklage für sechs Monate, die die AWo bilden musste. Auf die kann der Träger nun zurückgreifen. Aber was ist, wenn der Betrieb länger als ein halbes Jahr stillsteht? Und falls nicht, dann steht die Werkstatt vom ersten Tag an unter enormen Druck, die Rücklage möglichst schnell wieder aufzubauen.
Vorhandene Aufträge erledigt
Selbst wenn die Arbeit irgendwann wieder aufgenommen werden könne, so fürchtet Michael Stecken, werde es einige Zeit dauern, bis wieder Aufträge hereinkommen: „Wie schnell sich die Wirtschaft erholt und dann wieder Aufträge an uns erteilt, ist nicht absehbar. Unsere Auftraggeber müssen ja selbst erst einmal produzieren, um dann Material beispielsweise zum Zusammenbau an uns weiterzugeben. Zudem wollen die Firmen in der Krise zunächst ihre eigenen Mitarbeiter beschäftigen, auch darum wurden jetzt Aufträge zurückgezogen.“
Um niemanden zu vergraulen, hatten die AWo-Mitarbeiter, die eigentlich die Menschen mit Behinderungen bei der Arbeit unterstützen, nach dem Betretungsverbot noch alles daran gesetzt, die noch vorhandenen Aufträge abzuarbeiten. Doch viel zu tun gab es nicht mehr.
Auch in der Großküche enculina, in der sonst täglich 3200 Essen – unter anderem für die Kinder in den Kitas und Offenen Ganztagsschulen der AWO EN gekocht werden – blieben die meisten Töpfe und Pfannen in den Regalen. „Wir kochen jetzt noch gerade mal 70 Essen pro Tag. Wir versuchen mit Hochdruck neue Abnehmer zu finden“, erklärte Michael Stecken.
„Ich glaube, dass wir lange brauchen werden, bis der Motor wieder richtig läuft“, erklärte AWo-Geschäftsführer Jochen Winter. Er sieht die Gefahr, dass die Firmen – die Werkstätten arbeiteten zuletzt 60 bis 70 Unternehmen zu – zwischenzeitlich andere Zulieferer ins Boot geholt haben. Und doch sagt Winter: „Ich bin zuversichtlich, dass wird das hinkriegen. Wir werden die Klinken putzen.“
Was laut Winter für die AWo-Werkstätten spricht: Sie seien ein verlässlicher Partner mit zertifizierten Produktionsprozessen und modernen Maschinen. Der Vorteil des Werkstattverbundes sei außerdem, Aufträge auch in kleinerer Stückzahl oder geringeren Mengen zu erledigen, die sich für andere Unternehmen nicht lohnten.
Probleme wegen Corona an vielen Stellen
Notbetrieb in Kitas und Offenen Ganztagsschulen, Infektionen und Todesfälle in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe und fehlende Schutzkleidung für die Pflege fallen vermutlich demjenigen ein, der in der Corona-Krise an die Probleme von AWO und Freier Wohlfahrtspflege denkt. „Tatsächlich trifft uns und vor allem unsere Mitarbeiter die Pandemie viel tiefgreifender, schmerzhaft und vielleicht sogar existenzbedrohend - an vielen Stellen, auf die aktuell kaum jemand achtet“, unterstreicht Jochen Winter, Geschäftsführer der AWO EN.
Für mehr als 150 Mitarbeiter habe man Kurzarbeit anmelden müssen. Der Freizeit-, Kur- und Erholungsbereich, der von Gevelsberg aus nicht nur für den EN-Kreis, sondern auch für Dortmund, Hagen und dem Märkischen Kreis gesteuert wird, liegt nach einer Stornierungswelle komplett brach.
Die Frühförderstellen RaBe, die Kinder dabei unterstützen, Entwicklungsverzögerungen aufzuholen, wurden durch Betretungsverbote sechs Wochen komplett auf Null heruntergefahren und laufen jetzt unter Einhaltung vieler Vorgaben und Einschränkungen wieder an.
Maßnahmen im Auftrag der Arbeitsagentur und des Jobcenters, Menschen auf dem Weg in Arbeit und Unabhängigkeit von staatlichen Hilfen zu begleiten, seien unterbrochen. Für mehr als 100 Schulbegleiter, die Schülern mit Behinderungen im Unterricht an die Seite gestellt sind, haben Kreis und Städte teilweise die Zahlungen eingestellt.
„Fatalerweise nutzen viele Städte und Kreise und teils auch die Landschaftsverbände das neue Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG), welches als Schutzschirm für den Erhalt der Infrastruktur der Sozialen Arbeit erfunden wurde, zur eigenen wirtschaftlichen Entlastung. Dabei zwingen sie die Wohlfahrtsverbände in die Kurzarbeit, obwohl dies weder die Intention noch die Voraussetzung für das SodEG ist“, ärgert sich Jochen Winter.
Leidtragende seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die trotz der aktuellen, von Arbeitsminister Hubertus Heil vorangetriebenen Erhöhung des Kurzarbeitergeldes voraussichtlich drei Monate auf 40 Prozent und weitere drei Monate auf 30 Prozent ihres Einkommens verzichten müssen. „Unsere Schulbegleiter werden damit wieder abhängig von staatlichen Aufstockungen“, nennt Winter eine traurige Folge der Entwicklung.
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Dass der Öffentliche Dienst die Bezüge seiner Kurzarbeiter auf 95 Prozent aufstocke, was die AWO sich einfach nicht leisten könne, sei empörend. Schließlich gehe es um die gleichen Tätigkeiten. Auf eine Nachfrage, ob sie Mittel aus dem SodEG zur Gehaltsaufstockung nutzen, habe es bisher keine Antwort gegeben