Balve. OGS-Chef Marcus Klein hat eine erschreckende Entdeckung gemacht. Viele Erstklässler können keine Schleife. Es gibt noch mehr Defizite.
Eltern brauchen sie, Kinder lieben sie: die Offene Ganztagsschule (OGS). Sozialpädagoge Marcus Klein ist OGS-Chef für das Angebot in Balves Grundschulen, André Flöper der zuständige Fachbereichsleiter bei der Stadt Balve. Sie erzählen von wachsendem Bedarf – und von grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen.
Auf den ersten Blick sieht der Betreuungsraum in der städtischen Grundschule St. Johannes wie ein Klassenzimmer aus: bunte Kunststoffstühle, stapelbar auf den Tischen mit heller Oberfläche. Doch Küchenzeile und Büffet signalisieren: In diesem Raum wird gegessen, geredet, gelacht, gespielt. Zudem werden Hausaufgaben erledigt.
Betreuungsbedarf: Den haben Eltern bereits vor rund 20 Jahren erkannt. Hintergrund war der Wunsch von immer mehr Frauen, neben der Kindererziehung berufstätig sein zu wollen. Dazu kam, dass Oma und Opa oder Nachbarn Kinder nach der Schule immer weniger betreuen konnten. Wie schwierig eine Rückkehr zu dieser Tradition war, erlebten Familien mit schulpflichtigen Kindern schmerzhaft in der Corona-Zeit, als Unterricht zuhause stattfinden musste, wie André Flöper beobachtete.
Angebot startete mit Verein
Eine Kinderbetreuung musste her. Eltern stemmten sie ab 2009 in Eigenregie, im Rahmen eines Vereins. Die Stadt stellte Budget und Räume, der Verein kümmerte sich um Personal und Profil. Doch Anforderungen stiegen. „Ab einer gewissen Größenordnung kann ein Verein eine solche Aufgabe nicht mehr stemmen“, sagt André Flöper. Absehbar war, dass sie die Stadtverwaltung würde übernehmen müssen. 2016 war es so weit.
„Herr Klein und ich haben uns damals kennengelernt, und wir haben abgetastet, ob die OGS etwas wäre“, erinnert sich André Flöper an den Beginn ihrer Zusammenarbeit. „Es ging um die Leitung, und wir haben uns angenähert.“ Die städtische OGS besteht seit dem 1. Oktober 2016. Marcus Klein leitet die Arbeit seit dem 1. März 2017. Anfangs waren zwölf Kinder in der OGS. Binnen zwei, drei Jahren stieg ihre Zahl auf 60. Voriges Jahr zählte Marcus Klein 75 Mädchen und Jungen: „unsere fast maximale Auslastung“. Das ist fast jedes dritte Balver Grundschulkind.
Das OGS-Angebot im Balver Stadtgebiet wird ausgeweitet. Der Bedarf steigt, und es gibt ab 2026 einen gesetzlichen Anspruch darauf: „erst mal nur für die Erstklässler“, sagt André Flöper, „und dann aufsteigend für alle Grundschüler“. Zuständig ist nicht der Schulträger, sondern auch das Jugendamt, das bei einer kleinen Stadt wie Balve nicht bei der Kommune, sondern beim Märkischen Kreis angesiedelt ist. Ist der Anspruch erfüllbar?
Stadtverwalter wie OGS-Chef sind sich sicher, dass „wir das leisten können“. Einen unerwarteten Betreuungsboom sieht Marcus Klein momentan nicht. Personell sei das OGS-Team gut aufgestellt: fünf Fachleute in Garbeck, sechs in Beckum, sechs in Balve. Flexibel auf Krankheit und Urlaub reagieren: Das sei herausfordernd. Marcus Klein setzt darauf, dass sich Teams „gegenseitig helfen“. Das könne „relativ schwierig“ sein. Klagen will Marcus Klein nicht. Firmen und andere Institutionen müssten mit derlei Situationen ebenfalls zurechtkommen. „Bis jetzt haben wir’s immer ordentlich hingekriegt.“ André Flöper ergänzt, Kordula Budde von der Stadt Balve sorge bei großem Personalmangel für Hilfe – etwa aus dem Jugendzentrum.
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Für Marcus Klein hat sich die Arbeit verändert. Er ist für Kinder nach wie vor da. Während des Gesprächs wird er von ihnen angesprochen. Zugleich aber wächst der Verwaltungsanteil seiner Aufgaben. Zirkuspädagoge Klein hat gelernt, damit zu jonglieren: Vormittags steht Organisation an, mittags arbeitet er mit den Kindern. Wie ist die heutige Generation drauf?
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„Die Kinder konnten vor 15, 20 Jahren alleine zur Toilette gehen, 90 Prozent von ihnen konnten eine Schleife binden, und sie konnten mit Messer und Gabel essen“, stellt Marcus Klein fest. „Das Sozialverhalten hat sich total verändert. Es geht um generelle Strukturen. Das gilt nicht für alle, aber für viele. Wir müssen inzwischen erstmal einen Rahmen schaffen, der den eigentlichen Ablauf hier ermöglicht.“
Der Ablauf: Dazu gehört auch das gemeinsame Essen. Lernen geht auch durch den Magen. Aber was lernt Marcus Klein?
Männer sind im System Grundschule rar. Es ist eine Frauendomäne. Deshalb sind der 46-Jährige und seine männlichen Kollegen für die Kinder besonders wichtig. Ob sie wollen oder nicht: Sie sind immer auch ein bisschen Ersatz-Papa.