Arnsberg. Projekt „Silver Boom“ macht Seniorinnen Mut, sich im öffentlichen Raum zu behaupten. Projekt der Choreografin Anna Anderegg.
Beim Bummel durch Arnsberg fiel in den letzten Tagen eine zehnköpfige Frauengruppe auf, die sich langsam mit merkwürdigen Einzelaktionen bewegte. Wer sind die und was machen sie?
Die Frauen über 60 sind dem Aufruf, sich am außergewöhnlichen Projekt „Silver Boom“ der Schweizer Choreografin Anna Anderegg zu beteiligen, gefolgt. Weil das Frauenbild unserer Gesellschaft von Jugend und Schönheit geprägt ist, will sie den Blick auf die Frauengeneration richten, die ins letzte Lebensviertel eingetreten ist, mit allen Zeichen des Alterns, die sich an Haut, am Körper und im Gesicht zeigen. Sie will erfahrenen Seniorinnen Mut machen, über Bewegung, Tanz, Text und Musik die ihnen zustehende Position im öffentlichen Raum mit allen Zeichen des Alters selbstbewusst vor Publikum zu behaupten.
Die Kuratorin des Arnsberger Kunstvereins Pauline Doutreluingne hatte dazu eingeladen und die Stadt Arnsberg, Veltins und die Sparkasse Arnsberg-Sundern fördern das Projekt im Rahmen des Arnsberger Kultursommers. Regisseurin Anna Anderegg wird unterstützt von der französischen Filmemacherin Nina Gazaniol Vérité, die nicht nur den Ablauf des Projektes, sondern auch persönliche Körperdetails der Frauen zu einem teils intimen Video für die begleitende Ausstellung im Kunstverein zusammenschneidet. Noah Beeler, ein Theaterpädagoge in Ausbildung, begleitet die Übungsprozesse, um sie als Kunstform den Menschen zugänglich zu machen.
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Die zahlreichen Proben beginnen in der Kulturschmiede mit entspannenden Übungen zum Aufwärmen, zur Atemtechnik und Körperwahrnehmung. Es folgt das Perfektionieren der einstudierten Aktionen wie Körperdrehungen, Armbewegungen, Schrittrichtung, Blickfokussierung und Distanz zu den anderen Gruppenmitgliedern. Fast alle Abläufe vollziehen sich verhalten langsam. Zentrale Rollen spielen das Schmelzen, bei dem der Körper mit Kopfschräglage langsam in sich zusammensinkt, um sich dann ruckartig wieder mit Leben zu füllen, und das Flocking, bei dem sich die Gruppe in ihrem Bewegungsverhalten an einem ihrer Mitglieder orientiert.
Über die Künstlerin
Anna Anderlegg ist Choreografin mit Auszeichnungen und hat in Bern, Montpellier und Berlin Tanz studiert.
Ihre Arbeit befasst sich mit dem menschlichen Körper in seiner Umgebung.
Seit 2020 führt sie den „Silver Boom“ in kleinen und großen Städten in verschiedenen Ländern auf.
Die Silver Boom-Aufführung finden am Donnerstag, 29. Juni, und Freitag, 30. Juni, jeweils um 17 Uhr ab Neumarkt statt.
Die begleitende Ausstellung im Kunstverein, Königstraße 24 wird am 30. Juni um 19 Uhr eröffnet. Sie ist vom 1. Juli bis 3. September zu besuchen.
Die Video-Installation wird am 30. Juni, 1. und 2. Juli gezeigt
Die hochmotivierten Frauen wagen sich nun auf die Straße. Den Regieanweisungen folgend schreitet die Gruppe bedächtig langsam durch die Stadt, wobei sie die einstudierten Bewegungsabläufe möglichst an die Räumlichkeiten anpasst. Jede Frau soll zielstrebig etwa sieben Mal auf der Strecke die anderen verlassen, um in eine fantasievolle Einzelperformance zu schlüpfen. Sie klammern sich an Pfähle, Straßenpoller und Steinwände, legen sich auf Bänke und Boden oder lümmeln auf Treppenstufen, während die Gruppe wie ein ruhiger Wasserstrom an ihnen vorbeifließt. Die Frauen verlieren sich auf großen Flächen und kommen mit genau vorgegeben Schritten wieder zusammen mit Schmelzen und Flocking.
Sehr anrührend erzählen Frauenstimmen aus den mitgeführten Lautsprechern in mehreren Sprachen erlebte Situationen, Erfahrungen und Gefühle. Passanten bleiben mit fragenden und irritierten Blicken stehen. „Kann man Ihnen helfen?“, wird eine am Boden liegende Darstellerin angesprochen. Um das Publikum einzubeziehen, rät die Regisseurin: „Zeigt den Leuten den Rücken und macht sie neugierig auf euren Blick, wenn ihr euch umdreht. Zieht sie in euren Bann.“ Am Schluss entfalten die Frauen langsam je einen großen Papierbogen, bekleiden sich damit und zerreißen ihn in Stücke, die der Wind über den Boden fegt. „Denkt jetzt an das, was ihr loswerden wollt“, mahnt die Regisseurin.
Selbsterkenntnis spielt eine Rolle
Marita Gerwin, frühere engagierte Leiterin der Fachstelle Zukunft Alter, konnte sich nur zögerlich zur Teilnahme entscheiden, wobei die Selbsterkenntnis des Älterwerdens eine Rolle spielte. „Ich muss das akzeptieren, aber ich bin bunt und trage Farbe. Warum soll ich nicht verrückt sein und anderen Leuten ein Zeichen setzen?“ Der Austausch mit jungen Künstlern reizt sie wie das Arbeiten mit gleichaltrigen Frauen in einer total inspirierenden Gruppe mit Erfahrungen, Offenheit und Vertrautheit. „Das Thema Alter ist eine Reise zu mir selbst.“ Der Kurs führe sie an ihre Grenzen, was sie jedoch beflügelt, weitere Herausforderungen anzunehmen.
Den akribisch choreografisch einstudierten Marsch absolvieren die zehn Teilnehmerinnen mit offensichtlicher Freude, großem Einsatz und diszipliniert mit sehr fantasievollen Einzelaktionen. Für sie ein spannendes Gruppenerlebnis.