Arnsberg/Meschede. Meschederin und AKIS Arnsberg gründen eine Online-Selbsthilfegruppe für Eltern frühgeborener Kinder. Christina erzählt, was sie selbst erlebte.
„Es ist schrecklich, wenn du dein Kind im Inkubator siehst“, sagt Christina. Ihre Stimme zittert. Vor knapp einem Jahr bekommt die Meschederin ein Frühchen. Es sind gerade einmal 32 SSW (Schwangerschaftswochen) vergangen.
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Eigentlich verläuft die Schwangerschaft komplikationslos. Eben genau so, wie man es sich als Eltern wünscht. Das Kinderzimmer wird fein hergerichtet, erste Strampler und Babysöckchen zieren den kleinen Kleiderschrank. Doch dann kommt alles anders. Plötzlich wird es nach einer Routineuntersuchung hektisch. Christina muss ins Krankenhaus – sofort. Deutschlandweit sollen laut Bundesverband „Das frühgeborene Kind e.V.“ mehr als 60.000 Kinder als Frühgeborene zur Welt kommen – damit seien sie die größte Kinderpatientengruppe im Gesundheitswesen. In den letzten Jahrzehnten habe sich die Überlebenschance der Frühgeborenen stets verbessert.
Erstes Treffen online
Informationen und Elterntipps rund um Frühgeborene bietet die Webseite des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind e.V.“ auf www.fruehgeborene.de.
Die Selbsthilfegruppe trifft sich erstmals am Mittwoch, 3. Mai, 18 Uhr, online. Anmeldungen sind über die E-Mail-Adresse selbsthilfe@arnsberg.de möglich.
Noch am gleichen Tag wird Christina Mutter eines kleinen, zierlichen Mädchens. Acht Wochen zu früh. Kaiserschnitt. Nur kurz bekommt Christina ihre Tochter zu Gesicht – bevor sie erneut operiert und ihr Baby im Inkubator versorgt werden muss. „Das war schrecklich“, sagt Christina, „ich sah mein Baby nur auf Fotos.“ Sie selbst liegt auf Station und das Baby muss adäquat behandelt werden. Denn weder Lunge noch Herz sind bereit für das Leben. „Normalerweise legen Hebamme und Ärzte einem das Kind auf die Brust“, erklärt sie, „um die Mutter-Kind-Bindung direkt zu stärken.“ Doch das geht nicht.
An den ersten beiden Tagen sieht Christina ihre Kleine nur auf Fotos. „Mein Mann hat mit dem Handy Fotos gemacht“, sagt sie, „insgesamt hat er sich die erste Zeit toll um sie gekümmert.“ Denn Christina selbst muss es nach der OP ebenfalls langsam angehen lassen, liegt noch zwei Wochen im Krankenhaus. Eine psychische Doppelbelastung für die im Wochenbett liegende Mutter.
Zwei Stunden Kuschelzeit am Tag
Ihre Tochter darf sie das erste Mal am dritten Tag nach der Geburt besuchen. Knapp sechs Tage lang darf sie ihr Baby nur durch die Luke am Inkubator berühren. Händchen halten. „Es ist ein komisches Gefühl, zum Inkubator zu gehen“, sagt sie. Vergleicht diesen schweren Gang gefühlstechnisch mit einem Gang zum Grab. Am zweiten Tag treten Komplikationen innerhalb der Beatmung auf. Christinas Tochter geht es nicht gut. Und dennoch sind Mutter und Vater froh, dass nicht mehr geschehen ist. „Manche Kinder bekommen eine Hirnblutung und haben dann mit den Spätfolgen zu kämpfen.“ Das bleibt der Kleinen erspart.
Die meisten Frühgeborenen kommen zwischen der 32. SSW und 37. SSW zur Welt. Sogar Babys mit weniger als 500 Gramm haben eine Überlebenschance. Im Jahr 2020 überlebten circa 37 Prozent der 1.071 Babys dieser Gewichtsklasse.
Christinas Baby liegt bei der Geburt zwischen 1000 und 1500 Gramm – eine Überlebenswahrscheinlichkeit von bereits 91 Prozent. Und dennoch nur Zahlen, die für Christina und viele andere Eltern in dem Moment keine Relevanz haben, wenn sie ihr Kleines rundum verkabelt im Inkubator sehen, nur an der Hand berühren dürfen und Stunde um Stunde um das noch so junge Leben bangen. Christina und ihr Mann schenken ihrer Kleinen in dieser schweren Zeit eine Spieluhr. Sie taufen sie „Emmi“. „You are my sunshine“, klingt es aus ihr. Neben der beruhigenden Musik piepst das medizinische Equipment durchweg.
Nach ein paar Tagen darf sie ihr Kind endlich auf die Brust nehmen. In voller Montur – mit verkabeltem Monitor, mit Magensonde durch die Nase, mit allem. Nur drei Stunden darf das Baby raus aus dem mit einer Decke abgedunkelten „Brutkasten“. Es wird gewickelt und durch die Sonde mit Milch gefüttert. „Diese Zeit zu genießen ist alles!“, sagt Christina. Zwei Stunden Kuschelzeit – dann muss die Kleine zurück in den Inkubator. Tagtäglich spielt „Emmi“, die Spieluhr, dem kleinen Mädchen die beruhigenden Töne. „Das wirkt auch heute noch“, sagt Christina.
Tagtäglich von Meschede nach Dortmund
Fünf Wochen lang liegt das kleine Baby im Krankenhaus. „Es ist unwahrscheinlich schwer, einfach nach Hause zu fahren“, schildert sie ihre Gefühle. „Mein Mann ist vier Wochen lang jeden Tag ins Krankenhaus gefahren – und hat nebenbei noch gearbeitet.“ Sie selbst blieb zwei Wochen im Krankenhaus, bevor auch sie tagtäglich zum Baby fuhr. Es ist ihr erstes Kind – entsprechend verunsichert und hilflos steht sie da. Einzig und allein ihre medizinische Vorbildung ermöglicht es ihr, einzelne Schritte nachvollziehen zu können oder diese auch zu hinterfragen.
Aktuell stößt das Thema „Frühgeburten“ auf wenig Akzeptanz. So jedenfalls fühlt es sich für Christina an. Spricht sie sich einmal bei anderen Eltern aus, werden ihr gleich Sprüche wie „Stell dich nicht so an – ist doch alles gut gegangen“ oder „Du übertreibst aber auch“ um die Ohren gehauen.
Erste Selbsthilfegruppe online
„Eine explizite Selbsthilfegruppe für Eltern von frühgeborenen Kindern gibt es im Sauerland nicht“, sagt sie. Da sie noch einige Zeit zuhause sein wird und anderen Eltern in einer ähnlichen Situation Unterstützung bieten möchte, nimmt sie Kontakt zu AKIS (Arnsberger Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen im Hochsauerlandkreis) auf und gründet gemeinsam mit dieser städtischen Institution eine entsprechende Selbsthilfegruppe. „Es geht um den Austausch“, sagt sie. „Jede Mutter beziehungsweise jede Familie erlebt die Situation anders. In dieser Selbsthilfegruppe sollen sich alle untereinander austauschen und unterstützen können.“
Es geht ihr um das, was sie während des Wochenbetts im Krankenhaus nicht hatte. „Menschen, die mich verstehen“, sagt sie, „Menschen, die mir vielleicht auch den ein oder anderen Tipp geben können, wie ich damit umgehen kann.“ Ihre medizinische Vorbildung und ebenfalls die ihres Mannes wollen die beiden dazu nutzen, um auch beratend zur Seite zu stehen. „Ganz gleich, ob das Paar noch vor der Geburt steht oder das Frühchen bereits geboren ist“, so die junge Mutter. „Und auch Eltern von Frühchen, die mittlerweile schon älter sind, sind herzlich eingeladen, ihre Erfahrungen mit allen zu teilen.“
Am Mittwochabend um 18 Uhr treffen sich alle Interessierten erstmals online. „Ob und inwieweit wir uns hinterher auch persönlich treffen können, bleibt abzuwarten“, so Christina, „denn wir möchten allen Eltern ermöglichen, an den Treffen teilzunehmen.“ Gemeint sind beispielsweise auch Eltern, die aufgrund ihres Kleinkindes oder Babys nicht mal eben abends zu einer bestimmten Adresse fahren können.
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Eine Krabbelgruppe für Frühgeborene gibt es nicht. Christina besucht anfangs ein Mal im Monat das Elterncafé am Hüstener Karolinenhospital. Mittlerweile hat Christina eine eigene Krabbelgruppe für alle Kinder ins Leben gerufen. „Die Hemmschwelle von Eltern Frühgeborener ist groß“, sagt sie, „da lernt man sie nicht mal eben so auf der Straße kennen.“
Christinas Baby feiert in ein paar Wochen seinen ersten Geburtstag – und es geht dem kleinen Mädchen so weit gut. „Die Meilensteine, die wir im ersten Jahr überwunden haben, machen uns auch stolz“, sagt Christina, „und wir sind sehr froh, dass es unserer Tochter so gut geht.“ Die Angst jedoch bleibt. Die Angst der Eltern vor unvorhersehbaren Spätfolgen.