Arnsberg. Kinderaugen, die wie Christbaumschmuck funkeln – ein Traum für Kateryna. Was sie an Weihnachten in den Augen ihres Sohnes sieht, ist Leere.
2014. Luhansk. Es herrscht Krieg. Der Donbas-Konflikt beginnt. Zwei Wochen lang harrt die junge Kateryna im Keller ihres Hauses aus. Solange, bis Nachbarn so viel Geld zusammengelegt bekommen, dass sie sie auf die Flucht schicken können. Sie und ihren dreijährigen Sohn. Bohdan. Im Sommerkleid und Sandalen verlässt sie ihre Heimatstadt. Lässt Brüder, Schwestern und Eltern zurück. Und all ihr Hab und Gut. Nur ein paar kleine Dinge finden Platz in ihrer Tasche.
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Sie strandet in Charkiw – einer Millionenstadt. Als alleinstehende Frau mit Kleinkind. Sie schläft in Kirchen, Gartenhütten und überall, wo sie Unterschlupf finden kann. Ohne feste Bleibe. Die unterschiedlichsten Gelegenheitsjobs halten sie und ihren Sohn über Wasser. Sie arbeitet mal im Laden, mal im Kindergarten. Hier und dort. Den Sohn immer im Schlepptau. Zuletzt ergattert sie einen Job im Management einer Textilkette. Ein Job, der Hoffnung spendet. Denn sie verdient genug Geld, um sich und Bohdan eine Bleibe zu mieten.
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Der Krieg aus dem Krieg
Endlich scheint es bergauf zu gehen. Sie steht sogar kurz davor, kreditwürdig zu sein und eine Wohnung kaufen zu können. Bohdan geht es gut. Er spielt Hockey. Schnitzt und baut eigene Holzboote, mit denen er sogar an Wettbewerben teilnimmt. Er hat Freunde. Ein aufgeweckter, kreativer Junge, der seine erste verlorene Kindheit nicht mehr zu vermissen scheint.
2022. Charkiw. Der Krieg zieht sich nun über die gesamte Ukraine. Erneut muss sich die kleine Familie schützen. Erneut fliehen. Denn Charkiw stellt eines der Hauptangriffsziele Russlands dar. Kateryna und Bohdan stehen zum zweiten Mal vor dem Nichts. „Ich bin ganz froh, dass ich die Wohnung noch nicht gekauft hatte“, sagt Kateryna, „wie hätte ich die jetzt bezahlen sollen?“
Emotionslos erzählt sie ihre Geschichte. So, als sei sie selbst gar nicht dabei gewesen. Trocken liest sie aus ihrem Schicksal vor, wie aus dem Klappentext eines Romans. Und dennoch – mit einem tiefen Blick in ihre Augen wird der Schmerz erkennbar. Auch wenn sie die sich ankündigende Träne gekonnt wegdrückt. Stark will sie sein. Nicht leiden. Für sich, aber noch vielmehr für Bohdan.
Flucht nach Arnsberg
Am 6. März sitzen Kateryna und Bohdan im Bus in die Sicherheit. Nach Arnsberg. In die Notunterkunft am Marienhospital. Schweigend beziehen die beiden ihr Zimmer in der Fremde. Ohne Sprachkenntnisse. Ohne jemanden zu kennen. Ohne Familie. Ohne Hoffnung. Sie schlendern zum Essen, zurück in ihr Zimmer. So, als seien sie auf einem anderen Stern. Ohne Mimik, ohne Gestik, ohne ein Wort zu sprechen. Traumatisiert.
Erst nach und nach lichtet sich das Dunkle. Kateryna lässt Menschen an ihrem Schicksal teilhaben. Sie bekommt Unterstützung, lernt Freunde kennen und beginnt, ihr Leben in Sicherheit bewusst wahrzunehmen. Nur Bohdan scheint noch nicht in Arnsberg angekommen zu sein. Schwelgt in Erinnerungen. Ist gedanklich noch in der Ukraine. Bei seinen Holzbooten, beim Hockey und natürlich bei seinen Freunden.
„Sein bester Freund ist sein Kater“, sagt Olga Dyck. Sie kennt die beiden seit Beginn an. „Kateryna ist aufgetaut, doch ihr Sohn scheint nach wie vor abwesend zu sein.“ Das beunruhigt auch Kateryna selbst. So sehr wünscht sie sich, dass ihr Sohn hier Freunde findet, sich integriert, wieder Freude am Leben hat. Doch dieser zeigt kaum Reaktionen. Verkriecht sich in seinem Zimmer.
Das Weihnachtsfest in der Fremde
Ein Weihnachtsfest mit der großen Familie kennt Bohdan nicht. Denn er und seine Mutter waren schon immer zu zweit. Doch das Weihnachten in Deutschland kennt er noch viel weniger. Und Kateryna auch nicht. Beim Weihnachtsessen für geflüchtete Menschen in Arnsberg sitzen sie und Bohdan am ersten Tisch. Und während sie das Dinner zu genießen scheint, spielt er an seinem Handy. Kaum einen Happen gegessen. Selbst den Nachtisch lässt er stehen.
Kinder laufen umher, spielen Fangen und Verstecken. Er widmet dem Geschehen nur einen kurzen Blick. Selbst die Clowns können ihn nicht aus seiner Gedankenwelt herausholen. Die heute 37-jährige Kateryna scheint besorgt. Verfolgt fast jeden seiner Schritte mit den Augen. Zu groß scheint die Angst um ihn zu sein. Denn aktuell ist er das Einzige, das sie hat und sie das Einzige, das er hat. Mit ihr kann er auch mal lachen, etwas auflockern. Jedoch nur kurz.
Der 11-jährige Bohdan hat zum zweiten Mal seine Kindheit verloren. Zum zweiten Mal seine Heimat verlassen. In den Augen herrscht Leere. Auch dieses Weihnachten werden die beiden wieder zu zweit verbringen. Und dennoch anders als sonst. In Arnsberg – der uns so vertrauten und ihnen so fremden Stadt.