Arnsberg. Wie Arnsbergs Bürgermeister Ralf Paul Bittner auf ein besonderes Jahr zurückschaut und auch privat mit Ängsten und Sorgen konfrontiert wird
Ein turbulentes Jahr nähert sich dem Ende. Erneut bestimmten Krisen das Leben der Menschen in der Stadt. Mit dem Arnsberger Bürgermeister Ralf Paul Bittner sprach unsere Zeitung über die vergangenen zwölf Monate, die Herausforderungen und ganz persönliche Empfindungen.
Welcher Moment im Jahr 2022 hat Sie in Ihrer Rolle als Bürgermeister am Tiefsten bewegt?
Das Jahr 2022 hat viele sehr bewegende Momente für mich als Bürgermeister gebracht. Einen bestimmten zu benennen, ist schwer. Zwei Momente stehen aber im direkten Zusammenhang: Der Moment, als ich am Marienhospital in den Bus gestiegen bin, um die vor dem Krieg geflohenen Menschen Anfang März in Arnsberg zu begrüßen. Diese erschöpften und von Verzweiflung gezeichneten Gesichter zu sehen, die wenige Stunden vorher noch in Todesangst ihr Land verlassen haben, hat mich sehr berührt. Und sie stehen leider nur stellvertretend für viele Menschen die vor Krieg, Verfolgung und Folter zu uns fliehen. Ein weiterer Moment hat mich am Schreibtisch sehr ergriffen: Der Bürgermeister der ukrainischen Stadt Chernihiv hat sich in einem sehr emotionalen Dankschreiben für die Hilfe aus Arnsberg bedankt. Zu lesen, dass der Kollege gerade jeden Strohhalm ergreift, um die Menschen vor Tod und Vertreibung zu schützen, relativiert dann doch auch sehr den Blick auf manche Themen hier vor Ort. Gemeinsam mit vielen bundesweiten Partnern ist eine Recovery Conference zur Aufbauhilfe für Chernihiv geplant, wo ich dann den Kollegen persönlich kennenlernen darf.
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Der Krieg in der Ukraine ist das prägende Ereignis des Jahres: Hätten Sie sich vor wenigen Jahren vorstellen können, dass Ihre Kinder und unsere Kinder noch einmal ein Weihnachten mit einer echten Kriegsbedrohung vor den eigenen Grenzen erleben müssen?
Nein, ganz klares Nein. Ich bin politisch mit den Worten von Willy Brandt groß geworden: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ - Ich habe das zwar für eine wertvolle, aber doch abstrakte Botschaft gehalten. Dass wir nochmals hart gegen Krieg und für Frieden arbeiten müssen, hätte ich niemals erwartet. Und auch nicht, dass auf dem Wunschzettel meiner Kinder „Bitte mach den Krieg weg“ steht.
Sie müssen sich sowohl im Amt in der Bewältigung der vielen Krisen als auch als Privatperson mit Szenarien, Ängsten und Sorgen auseinandersetzen. Kann es da dennoch gelingen abzuschalten? Und wenn ja, wie?
Ich habe den Vorteil, dass ich durch viele Jahre Krisenstabsarbeit und Führung extremer Einsätze mit Erfahrung und Ruhe agieren kann. Dennoch ist der dauerhafte Krisenbetrieb eine extreme Herausforderung, physisch und psychisch. Denn es muss noch neben der personellen Führung einer Behörde mit 1300 Mitarbeitenden in 50 Fachdiensten und dem gleichzeitigen Aufbau einer modernen digitalen und nachhaltigen Verwaltung und Stadtgesellschaft gelingen. Ganz abgesehen davon, dass wir die Folgen jahrelangen Investitionsstaus mit dem größten Investitionsvolumen aller Zeiten in öffentliche Infrastruktur aufarbeiten und gleichzeitig verhindern mussten, wieder in die Haushaltssicherung zu rutschen - nachdem es uns nach Jahrzehnten endlich gelungen ist, diese zu verlassen. Es bleiben zwar nur wenige Momente des Abschaltens, die sind dann aber sehr intensiv und wertvoll. Das ist im engen Kreis der Familie und auch mal bei Wanderungen oder sportlichen Aktivitäten gut möglich.
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Was können Verwaltungen tun, um Bürgern der Stadt und auch Mitarbeitenden der Verwaltung – die ja alle ähnliche Sorgen teilen – in der Zeit der vielen Krisen mehr Sicherheit zu geben?
Die kommunale Verwaltung ist die staatliche Organisation, die am Nächsten an den Menschen ist. Deswegen muss die Stadtverwaltung möglichst transparent und möglichst intensiv nach innen und außen kommunizieren. Nach außen habe ich sehr viele neue Formate und Wege aufgebaut, um mit mir oder den Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch zu kommen. Dazu zählen die Bürgerspaziergänge, die wieder im Mai starten werden, meine Sprechstunden – persönlich und online, mein neues Angebot Jugendsprechstunde, der Unternehmensstammtisch und außerdem die vielen Möglichkeiten, sich direkt über die Stadt zu informieren oder in Kontakt zu treten, zum Beispiel über meinen E-Mail-Newsletter, den Telegram-Kanal, über Social Media oder „klassisch“ per E-Mail. Zuletzt konnte ich meinen Wunsch umsetzen und den ersten Bürger/-innenrat einladen, der sich sehr konstruktiv und intensiv mit der Energiekrise befasst hat. Nach innen biete ich unter anderem regelmäßige Mitarbeitenden-Zeiten an, wo mit ausreichend Zeit und in einem passenden Umfeld vieles besprochen werden kann.
Seit 2018 im Amt
Ralf Paul Bittner wurde am 18. Februar 2018 zum Arnsberger Bürgermeister gewählt. Seine erste Amtsperiode endet erst 2025.
Bereits 1986 trat er in die SPD ein. Vor seiner Kandidatur zum Bürgermeister 2018 war er schon sechs Jahre lang Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion in Arnsberg gewesen.
Ralf Paul Bittner wohnt mit seiner Familie in seinem Heimatort Oeventrop und hat insgesamt sieben Kinder.
Was macht Ihnen in Ihrer Arbeit mit Blick auf die Stadt trotz aller schwierigen Situationen dennoch Mut und Zuversicht?
Da gibt es vieles. Zum einen zum Beispiel, dass wir wirtschaftlich gut durch die Corona-Krise gekommen sind. Das gilt natürlich nicht für jeden, aber insgesamt schließen wir das Jahr 2022 mit einem historischen Rekordergebnis bei der Gewerbesteuer ab. Arnsberg hat eine starke Wirtschaft. Zum anderen stimmt es mich immer wieder zuversichtlich, dass Arnsberg seit jeher einen starken gesellschaftlichen und ehrenamtlichen Zusammenhalt hat. Das gilt besonders für die Dörfer, hat sich aber auch in der gesamten Stadt gezeigt. Aktuell können wir auch deshalb optimistisch nach vorne schauen, weil unsere Pläne für den Umgang mit der Energie- und Klimakrise stark sind und mit zu den besten vergleichbarer Städte gehören. Das bestätigen uns auch viele externe Expertinnen und Experten.
Was blieb in Arnsberg aus Ihrer Sicht im Jahr 2022 unvollendet und muss dringend angegangen/fortgesetzt werden?
Eine Stadt ist nie „fertig“. Es gilt, die Sanierungsmaßnahmen an den Schulen und Sportstätten wie auch bei der Feuerwehr und dem Rettungsdienst erfolgreich voranzutreiben. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung wird nächstes Jahr mit Erfolg abgeschlossen. Die endlich begonnene umfassende Schulentwicklungsplanung muss im nächsten Jahr mit Priorität aufgesetzt und konkret angegangen werden. Und wir werden gemeinsam mit der Politik eine Priorisierung der zahlreichen geplanten Maßnahmen vornehmen müssen. Damit die großen Vorhaben wie zum Beispiel das Grundschul- und Bürgerzentrum Oeventrop oder auch die Lehrschwimmbecken und das Sportzentrum Große Wiese entsprechend umgesetzt werden können.
Werden Sie es schaffen, zwischen den Jahren für ein paar Tage komplett aus dem Tagesgeschäft und der Bürgermeisterrolle auszusteigen und was wird die erste Amtshandlung in 2023 sein?
Komplett ist man als Bürgermeister nie raus. Dafür ist beispielsweise bei der Feuerwehr, dem Jugend- und Ausländeramt oder der Ordnungsbehörde immer was „los“. Außerdem erfordert die Arbeit im Krisenstab „Energie“ im Hintergrund immer wieder ein Update untereinander. Das ist aber okay. Denn ich genieße trotzdem die „bürofreien“ Tage mit meiner Familie und kann auch zumindest zeitweise sehr gut abschalten. Die „eine“ erste Amtshandlung kann man so nicht benennen. Die erste Woche werde ich viele Gespräche mit meinen Fachbereichsleitungen führen, mehrere Gespräche mit Bürgermeisterkollegen und -innen und Vereinen, ich besuche das Job-Center, führe neue Ratsmitglieder in ihr Amt ein und wir starten das Verfahren zur Auswahl der neuen Beigeordneten.