Arnsberg. Die facettenreiche Ausstellung „Becoming Gewish“ im Kloster Wedinghausen geht auch den schwierigen Fragen nach der Identität nach.

Am Freitag, 8. Oktober, um 19 Uhr wird die Ausstellung „Becoming Gewish“ von Jackie Grassmann und Ariel Reichman im Kloster Wedinghausen eröffnet.

In ihrem Projekt, das erstmals für die Öffentlichkeit zugänglich ist, widmen sie sich zeitgenössischen jüdisch-deutschen Identitäten. „Es geht um die Herausforderungen, die diese Identität mit sich bringt“, erläutert Ariel Reichman bei der Vorstellung vor Ort. „Es geht uns vor allem darum, wie jüdisches Leben heute in Deutschland aussieht und welche Potenziale das birgt.“ Ist es heute möglich, sich zugleich jüdisch und deutsch zu identifizieren? ,Gewish’ fordert die Vereinbarkeit von German und Jewish ein, muss dazu aber in der Wortschöpfung eine neue Form finden“, erklärt Kunsthistorikerin Juliane Rogge, die das Projekt begleitet.

Ausstellung in Kooperation mit dem Kulturbüro und dem Kunstverein Arnsberg

Die Ausstellung „Becoming Gewish“ wird am 8. Oktober eröffnet und ist bis zum 31. Oktober zu besichtigen (Ausstellung im Kloster Wedinghausen, Filminstallation in der Propsteikirche St. Laurentius).

Vom 8. bis 10. Oktober finden jeweils um 19 Uhr „Lecture Performances“ im Kloster Wedinghausen statt.

Die Veranstaltung findet im Rahmen des „Arnsberger Kultursommers“ und in Kooperation mit dem Kulturbüro der Stadt Arnsberg und dem Kunstverein Arnsberg statt.

„Becoming Gewish“ leistet anlässlich des Festjahres 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland einen Beitrag zur Sichtbarkeit heutigen jüdischen Lebens in Deutschland und wird gefördert durch #2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland aus Mitteln des Bundesinnenministeriums.

Welche Herausforderungen, Notwendigkeiten, aber auch besonderen Gestaltungsräume bringt ein Leben in Deutschland für Jüdinnen und Juden mit sich? Wie ist der eigene Konflikt mit der belastenden deutschen Nationalität auszuhalten und wie kann man als Teil der jüdischen Gemeinschaft damit umgehen? Kann sie für die Auseinandersetzung mit dem Jüdisch-Sein auch Potenziale bieten?

Verschiedene Aspekte des Judentums

Der Komplexität dieser Fragen und der Heterogenität der Antworten begegnen Ariel Reichman und Jackie Grassmann mit dem persönlichen Dialog: Sie führten intensive Interviews mit deutschen Jüdinnen und Juden, die ihre Identität (neu) finden müssen. „Es gibt ganz verschiedene Aspekte des Judentums“, so Reichman. „Für manche bedeutet es Religion, für andere auch Kultur oder Spiritualität. Wir haben uns vor allem mit Leuten beschäftigt, die sich in einer Art Übergang befinden – zum Beispiel zum Judentum konvertiert sind, sich jüdisch fühlen, es aber nicht sind, oder auch lange gar nicht wussten, dass sie jüdisch sind.“

Auch die Propsteikirche wird in die spannende Ausstellung „Becoming Gewish“, die am heutigen Freitag eröffnet wird, einbezogen.
Auch die Propsteikirche wird in die spannende Ausstellung „Becoming Gewish“, die am heutigen Freitag eröffnet wird, einbezogen. © WP | Ted Jones

Es sind komplexe Geschichten, die ein vielschichtiges Bild zeitgenössischen Judentums entstehen lassen. „Die Dinge sind viel komplexer, als sie vielleicht zunächst aussehen. Uns ist es sehr wichtig, diese Komplexität zu zeigen“ so Reichman. „Diese Komplexität ist nicht nur etwas Schwieriges, sondern eröffnet auch viele Möglichkeiten, die ganz viel Neues entstehen lassen“, ergänzt Jackie Grassmann. „Es ist schon so, dass es ein zartes Aufleben gibt von jüdischem Leben in Deutschland, eine Art von Normalität.

Wenn ich nichts Neues, Zukünftiges sehe, dort zu leben, geht es eigentlich nicht. Die Frage ist, wie kann jüdisches Leben in Deutschland in Zukunft aussehen? Ohne Potenzial wäre das nicht möglich. Es geht darum, Dinge zu öffnen.“

„Oft werde ich gefragt: Sind Sie deutsch oder jüdisch“, erzählt Reichman. „Es gibt diese Trennung nicht – man kann beides in sich haben. Oder auch nicht. Es gibt kein entweder – oder.“ Das Finden der (neuen) Identität ist ein lebendiger Prozess, was sich auch im Titel der Ausstellung „Becoming Gewish“ zeigt. Die Arbeit mit individuellen Geschichten wirkt dabei Stereotypisierungen, Behauptungen von allgemeiner Gültigkeit und jedem Anschein von Abgeschlossenheit entgegen. Dennoch enthalten sie auch wiederkehrende Elemente und übergreifend erlebte Erkenntnisse und Herausforderungen, wie etwa mit Nichtwissen, Fragen und Suchen zu leben und sich etwas anzueignen, das sich nicht rekonstruieren oder vollständig identifizieren lässt. „An dieser Stelle spüren Jackie Grassmann und Ariel Reichman sensibel einem speziellen Wissen nach, das jüdisch ist“, so Rogge.

Berührungsängste verlieren

Das Fragmentarische und Prozesshafte sowie der Dialog prägen die künstlerische Formulierung. Im Zentrum der Ausstellung steht eine sogenannte Lecture Performance: Jackie Grassmann und Ariel Reichman erzählen an drei Abenden in Ausstellungsgesprächen mit performativen Elementen sowohl von ihrer eigenen Geschichte, als auch von anderen Umgangsweisen mit dem Spannungsverhältnis von deutscher und jüdischer Identität (Infobox).

Zentrale Passagen der geführten Interviews werden auf Leinwandarbeiten gezeigt und verweisen auf die einzelnen Geschichten und Identitätsentwürfe. „Sie bilden damit zugleich spezifische wie verbindende Kennzeichen dieser neuen jüdischen Identität, ohne die üblichen Marker des Judentums zu wiederholen“, erklärt Juliane Rogge.

Das Neu-Zusammensetzen, Neu-Finden jüdischer Kultur, Religion und Identität im deutschen Kontext und darüber hinaus ist auch in einer Bodeninstallation formuliert, die aus Fragmenten des Davidsterns besteht. Diese Keramiken können die Besucher anfassen und verschieben. „Es geht darum, Berührungsängste zu verlieren“, so Reichman, „nicht kaputt machen, sondern genau das Gegenteil: auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, um etwas Neues zu bekommen. Viele kennen den Davidstern nur aus dem geschichtlichen Kontext oder der Fahne Israels – es geht auch darum, das Symbol aus den beiden Kontexten zu befreien und zu einem Symbol für das ganze Judentum zu machen. Es muss eigentlich ein flexibles Symbol sein, vielleicht sind für manche auch nur einzelne Teile des Judentums wichtig.“

Zur Installation gehören außerdem Setzlinge einer schnell wurzelnden und Ableger bildenden Zierpflanze, die außerhalb Deutschlands unter dem Namen „Wandering Jew“ bekannt ist. Die Besucher können sie mit nach Hause nehmen und weitergeben, also praktisch in die Gesellschaft hineintragen.

Dialog als wesentlicher Bestandteil

Der Dialog ist wesentlicher Bestandteil der Ausstellung. Die Videoarbeit, die während der Lecture Performances im Kloster Wedinghausen und danach bis zum 31. Oktober in der Propsteikirche zu sehen ist, greift das Motiv der Mikwe, eines rituellen Tauchbades, auf. „Der Neubeginn, der Übertritt, die Verwandlung oder Konfrontation mit der eigenen Person, welche mit dem Untertauchen in oder Waschen mit Wasser vollzogen werden, ist ein geteiltes Element fast aller Religionen und macht das Existenzielle dieses Rituals sichtbar“, erläutert Juliane Rogge.

Der Film basiert auf Gedichten von Alice Steinman, die 1908 geboren wurde und seit 1958 in Arnsberg lebte, wo sie 2008 verstarb. „Es geht darum, sich das Judentum in Deutschland wieder anzueignen, auch wenn viel Wissen verloren gegangen ist“, sagt Jackie Grassmann.