Brilon. Dr. Hans-Günther Bracht aus Brilon hat ein Buch über die jüdische Familie Stern veröffentlicht. Auch heute sieht er Gefahren für die Demokratie.
Dr. Hans-Günther Bracht, pensionierter Direktor des Rüthener Gymnasiums beschäftigt sich schon seit seinem Studium mit der Zeit des Nationalsozialismus und der Verfolgung und Vernichtung der Juden. Dementsprechend möchte er - auch angesichts der aktuell erstarkenden rechtsextremistischen Strömungen - die Erinnerung an das, was damals passiert ist, wachhalten. Im WP-Interview stellt er sein neues Buch vor, das sich mit der jüdischen Familie von Dr. Hugo Stern beschäftigt, der in Brilon zur Schule gegangen ist.
Erforschen, wie Nationalsozialismus vor Ort funktionierte
Vor drei Jahren haben Sie eine Publikation über die sauerländische Dichterin Maria Kahle und ihre Nähe zu den Nazis veröffentlicht. Warum hat diese Thematik bis heute eine zentrale Bedeutung für Sie?
Meine erste Beschäftigung mit der Thematik war die Veröffentlichung des Buches „Juden in Brilon zur Zeit des Nationalsozialismus“ im Jahr 1988 zusammen mit Sigrid Blömeke und Gisela Kemper. Später folgten zahlreiche spezifische Aufsätze und meine Promotion zum Thema „Schule im Nationalsozialismus“. Immer ging es auch darum, Wissenslücken zu schließen und dadurch manch eine Vorstellung zu korrigieren, was besonders deutlich in meinem Buch über Maria Kahle gelang. Mir ist es wichtig zu ermitteln, wie der Nationalsozialismus funktionierte, wie er unterstützt wurde – und zwar nicht in Berlin oder München, sondern konkret vor Ort. Da gibt es weiterhin Lücken – auch wenn man an Brilon denkt.
Worum geht es inhaltlich in Ihrem aktuellen Buch?
Bei Forschungen bin ich in Rüthen auf Hugo Stern (geb. 1889) gestoßen, der Abiturient des Briloner Petrinums gewesen ist. Er wurde 1933 aufgrund seiner jüdischen Religion als Landesgerichtsrat fristlos entlassen. 1939 floh er mit seiner Familie über Kuba in die USA, was deren Überleben ermöglichte. Seinen Lebensunterhalt musste er mit zahlreichen kurzfristigen Gelegenheitsarbeiten sichern. Die schlechte wirtschaftliche Lage und sein großes Heimweh ließen ihn 1950 nach Deutschland zurückkehren. Er wollte am Wiederaufbau der Justiz teilhaben. Hugo Stern musste erleben, dass mit der militärischen Kapitulation aber antisemitische Vorstellungen in der Bevölkerung nicht automatisch verschwunden waren. 1958 starb er vereinsamt.
Zerstörtes Familienleben
Sie selbst sehen das Buch als Annäherung an den Lebensweg von Dr. Hugo Stern. Warum ist es für aus Ihrer Sicht wichtig, sich an ihn zu erinnern? Warum hat Sie gerade das Schicksal dieser Familie besonders berührt?
Nur fünf Prozent der geflohenen Juden sind nach 1945 zurückgekehrt in das „Land der Mörder“. Dem Lebensweg von Hugo Stern konnte ich mich aufgrund der zahlreichen Funde in Archiven, besonders in der Alten Synagoge in Essen, seinen schriftlich festgehaltenen Reflexionen und literarischen Texten von Jugend an bis zum Tod, den Gesprächen mit Enkeln und weiteren Verwandten aus Holland, Venezuela, Großbritannien und den USA sowie Zeitzeugen annähern. Die glückliche Jugend mit Abitur in Brilon, das Jura-Studium, die Festanstellung am Landgericht Essen und das erfüllende Familienleben mit zwei Kindern wurden durch die Nazis zerstört. Nach der Pogromnacht entschloss sich die Familie zur Flucht. Hugo Sterns Aufzeichnungen lassen die vielfältigen Fluchterfahrungen deutlich werden, aber auch die familiären Konfliktlagen, als er allein – ohne Frau und die beiden Kinder - nach Deutschland zurückkehrte. Fluchterfahrungen, die auch viele zu uns kommende Migranten unterwegs und nach Ankunft gemacht haben.
Wir erleben heute, dass rechtsextreme Ansichten in der Gesellschaft wieder an Boden gewinnen. Sehen Sie die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt?
Für mich sind die erstarkenden rechtsextremen Strömungen Ausdruck einer Überforderung durch zahlreiche Konfliktlagen, die sich derzeit deutlicher offenbaren, nach Jahrzehnten einer permanenten Wohlstandssteigerung für viele, deren Kosten nun auftreten. Zudem können über die sozialen Medien alle Konflikte – auch sachlich falsche Interpretationen – verbreitet werden, was Rechtsextreme geschickt nutzen. Geschichte kann sich zwar nicht wiederholen, aber ähnlich verlaufen aufgrund struktureller Gegebenheiten. Freiheitliche Demokratie heißt ja nicht, dass man sich die Freiheit nehmen lassen muss, wie das teilweise zum Ende der Weimarer Demokratie geschah durch Wegsehen.
Endlich: Breite Empörung und Demonstrationen
Wo sehen Sie heute Entwicklungen, die unsere Demokratie gefährden? Wie wichtig sind Demonstrationen wie es sie in jüngster Zeit überall gab?
Wir haben erneut zu lange dem Treiben rechtsextremer Gruppierungen zugesehen. Deren Forderung auf einem Treffen, Migranten und deren Unterstützer aus Deutschland millionenfach zu vertreiben, hat plötzlich zu breiter Empörung und Demonstrationen geführt. Ein Wachrütteln der Demokraten! Endlich! Doch war diese Forderung nicht neu. Neu war, dass bei dieser Veranstaltung nicht nur Rechtsextreme anwesend waren, sondern auch Mitglieder des sog. Bürgertums. Eines Bürgertums, das 1933 die Machtübergabe an Hitler und die Nationalsozialisten begünstigte. Die Demonstrationen geben Kraft: Gemeinsam sind wir bunt und stark; geben Kraft, am Arbeitsplatz, in den Vereinen etc. die freiheitliche Demokratie zu verteidigen; geben Einsicht in die Notwendigkeit, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Das über 100-seitige gebundene Buch mit zahlreichen Bildern ist für 14 € erhältlich über das Sekretariat der Privaten Sekundarschule Hugo Stern in Rüthen bzw. über den Verfasser Dr. Hans-Günther Bracht.
Zur Person
Dr. Hans-Günther Bracht, pensionierte Direktor des Rüthener Gymnasiums, gehörte in den 80er Jahren zur Demokratischen Initiative (DI) Brilon, dem außerparlamentarischen Vorläufer der Briloner Bürgerliste. Einer der Aktionsschwerpunkte der DI war die Aufarbeitung jüdischen Lebens und der Judenverfolgung in Brilon 50 Jahre nach der Progromnacht.
Weitere Veröffentlichungen: Dr. Hans-Günther Bracht: Maria Kahle - Einblicke in Leben und Wirken einer rechtskatholischen Schriftstellerin.