Hochsauerlandkreis. Allein haben sie keine Chance: Viele Rehkitze sterben beim Mähen der Felder. Kristin und ihr Team setzen alles daran, sie rechtzeitig zu finden.
Mit knapp fünf Grad ist die Luft morgens um 6 Uhr noch kalt. Dunstiger Nebel hängt über den taubehangenen Wiesen, die sich kilometerweit rund um Brilon erstrecken. Mit Gummistiefeln bewaffnet stapfen die Helfer des Hegerings Brilon durch das hohe Gras – es reicht weit über die Knie. „Noch knapp zehn Meter, ihr lauft direkt darauf zu“, tönt die Stimme aus dem Funkgerät. Sie gehört Kristin Schulte, die auf einem nahen Feldweg steht und die Drohne mit der Wärmebildkamera steuert. Die 39-Jährige behält das Drohnenbild genau im Blick und navigiert die Helfer zu der Stelle, wo auf ihrem Display ein leuchtend weißer Fleck zu erkennen ist: wahrscheinlich ein Rehkitz.
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Mit Drohnen werden jetzt täglich Felder abgesucht
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Einsätze wie dieser finden jetzt zur Mähsaison fast täglich und im ganzen Kreisgebiet statt: früh morgens ziehen Mitglieder der Hegeringe und Kitzrettervereine los und suchen die Wiesen, die an den jeweiligen Tagen gemäht werden sollen, nach Rehkitzen ab. Im hohen Gras sind die Tiere fast unsichtbar, sodass die Landwirte sie beim Mähen der Felder schnell übersehen - für viele Kitze der sichere Tod. „Die Kitze, die von den Ricken in den Wiesen abgelegt werden, sind oft erst wenige Tage alt“, erklärt Kristin. Sie koordiniert die Einsätze des Briloner Hegerings, heute stehen mehrere Felder bei Radlinghausen, Wülfte, Altenbüren und Scharfenberg auf der Liste. Die Kitze im hohen Gras zu finden, ist nicht leicht: „Wir sind froh, dass wir die Drohne haben. Ohne sie müssten wir die Wiesen mit vielen Leuten zu Fuß durchkämmen, was sehr zeitaufwendig ist. Dabei übersieht man die Kitze trotzdem schnell.“ Selbst mit einem Jagdhund sei die Suche schwierig, weil die Kitze noch wenig Eigengeruch haben. Die beste Chance bietet die Wärmebildkamera der Drohne. Möglichst früh, wenn es noch kalt ist, werden die Wiesenareale überflogen. Tiere, die sich darin befinden, heben sich hell auf dem dunklen Display ab, so wie jetzt. „Ihr seid fast da. Noch einen Schritt, dann schaut nach rechts“, funkt Kristin vom Feldrand. Und tatsächlich: Zwischen den dichten Grashalmen liegt ein Kitz, sein getupftes braunes Fell ist kaum zu erkennen. Wenige Meter entfernt liegt ein weiteres.
Kitze werden vor einem grausamen Tod bewahrt
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Bevor die Helfer Kitze bergen, statten sie sich mit Gummihandschuhen und dicken Grasbüscheln aus. Eine Maßnahme, die für die Tiere überlebenswichtig ist: „Man darf keinen Körperkontakt haben, damit die Mutter das Kitz nicht verstößt.“ Die zierlichen Tiere werden mit dem Gras hochgehoben und in einer Nachbarwiese abgelegt, die nicht gemäht wird. „Wenn es dafür keine geeignete Fläche gibt, werden große Körbe über die Kitze gesetzt, damit sie nicht unter das Mähwerk geraten. Der Bauer mäht dann um die Körbe herum oder man platziert sie am Feldrand und setzt sie nachher zurück.“ Seit Mitte Mai sucht der Hegering Brilon regelmäßig die Wiesen mit der Drohne ab, bis heute wurden schon über 40 Kitze entdeckt. Neben den Drohnen werden auch andere Maßnahmen zur Kitzrettung genutzt, wie die Vergrämung: „Hier wird versucht, dass die Ricken die Wiesen meiden und somit gar nicht erst Kitze dort ablegen“, erklärt Ansgar Wulf von der Kreisjägerschaft HSK. Dabei kämen meist optische oder akustische Reize zum Einsatz, wie z.B. Plastiktüten, die aufgehängt werden. Der Effekt sei vergleichbar mit einer Vogelscheuche. Weiter sei eine bestimmte Mähmethode hilfreich zum allgemeinen Schutz von Wildtieren: „Der Landwirt kann mit der Art zu Mähen – ‚von innen nach außen‘ - einen weiteren Beitrag leisten.“ Fluchtfähige Tiere wie Hasen oder Fasane erhielten auf diese Weise die Chance, das Feld noch zu verlassen.
Für die Kitzrettung ist die Suche durch den Menschen laut Ansgar Wulf aber unerlässlich. „Hier hat sich mittlerweile die Drohne mit Wärmebildkamera durchgesetzt.“ Die Erfolgsquote bei dieser Methode liege bei fast 100 Prozent. Aber auch diese Methode habe Nachteile, wie hohe Anschaffungskosten, begrenzte Akkuleistung und die Abhängigkeit vom Wetter: „Wir können nur bei gutem Wetter fliegen, selbst Nieselregen schadet der Technik“, erläutert Kristin. Auch könne man die Wärmesignatur der Tiere nur bei kalten Temperaturen wirklich gut sehen. Für den Drohnenflug hat sie einen Koffer mit Wechselakkus dabei, die von Vereinen, Landwirten und auch Privatpersonen gespendet wurden. Auf die Spenden sind die Hegeringe und Kitzrettervereine dringend angewiesen: „Ein Akku kostet um die 180 Euro, die Ladung reicht für ca. 25 Minuten, wenn es windstill ist.“ Damit sie möglichst sicher sein kann, dass sie kein Kitz übersieht, fliegt Kristin mehrmals über die Wiesen. „Da muss man immer gut haushalten mit den Akkus, wenn wir mehrere Felder absuchen wollen.“
Jeder kann mithelfen
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Zum Schutz der Kitze können auch Spaziergänger und Anwohner einen Beitrag leisten. In der Brut- und Setzzeit von April bis Mitte Juli sollte man sich besonders rücksichtsvoll verhalten, so Ansgar Wulf: „Die Natur ist in dieser Zeit quasi die Kinderstube für unsere Wildtiere. Es ist wichtig, auf den Wegen zu bleiben und die Hunde an der Leine zu führen.“ Wer ein Kitz findet, sollte es auf keinen Fall anfassen: Es sei normal, dass Kitze allein abgelegt werden, die Ricke bleibe meist in der Nähe. Auch gebe es immer wieder Menschen, die ein Kitz aus der vermeintlichen Gefangenschaft befreien wollen und es aus der Kiste lassen, die von den Rettern zuvor aufgestellt wurde: „Dies bedeutet oft den Mähtod, wenn das nicht durch Jäger oder Landwirte passiert. Nur sie wissen, wann welche Wiesen gemäht werden.“ Daher die dringende Bitte: Wer auf eine solche Kiste stößt, sollte sie auf keinen Fall entfernen. Wer sich unsicher ist, solle im Zweifel immer den Jagdpächter informieren, damit dieser sich ein Bild von der Lage verschaffen kann.
Für insgesamt vier Kitze, darunter zwei winzige Zwillingskitze, ist der heutige Tag dank den Helfern des Hegerings gut ausgegangen. Sie wurden evakuiert, bevor die Landwirte mit der Mahd ihrer Felder begonnen haben. Kristin ist erleichtert, aber auch erschöpft: „So wird es die nächsten Wochen weitergehen. Die Saison hat gerade erst angefangen.“