Marsberg. Die Ausprägung des Nationalsozialismus beschreibt Dr. Heinrich B. Kies am Lebenslauf des Protagonisten Philipp, seines Vaters in Marsberg.

„Frühjahr 1933, Philipp ist noch auf Brautschau, als sich die politische Großwetterlage ändert. In Niedermarsberg geht zwar alles seinen gewohnten Gang, Friedrich Brümmer lenkt die Stadt mit ruhiger Hand durch die Krise, aber in Berlin findet Ende Januar die Machtübergabe an Adolf Hitler statt. In Brilon, Bredelar und Obermarsberg haben die Nazis bereits Ortsgruppen der NSDAP gegründet. In Niedermarsberg allerdings verstecken sich die Nationalsozialisten hinter einer Nationalen Bürgerliste. Sie meiden die Öffentlichkeit und überlassen die Öffentlichkeitsarbeit den Parteigenossen aus Korbach, Arolsen und Brilon.“

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Dieser Absatz leitet das Kapitel unter der Überschrift 1933 bis 1938 ein. Geschrieben hat ihn Dr. Heinrich B. Kies in seinem im April veröffentlichen Buch „Philipp - Das Leben eines Sauerländers“. Dr. Heinrich Kies ist 1947 in Niedermarsberg geboren und aufgewachsen als viertes Kind von Philipp und Kläre Kies.

Heute lebt der Hausarzt mit eigener Praxis und dreifacher Opa in Köln. Seine Kindheit und Jugend in Niedermarsberg in der Nachkriegszeit lässt ihn aber nie wirklich los. Und auch die eigene Familiengeschichte nicht. Dass da etwas war, hat er gespürt, aber wie in vielen deutschen Familien wurde über die eigene Geschichte, die Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus und die Zeit danach nicht gesprochen.

Philipp Kies

Dr. Heinrich Kies ist 1947 in Marsberg geboren und aufgewachsen. 
Dr. Heinrich Kies ist 1947 in Marsberg geboren und aufgewachsen.  © Privat | Privat

Philipp, der Protagonist des Buches, ist der Vater von Heinrich Kies. Auf 185 Seiten beschreibt der Autor ein Stück Familiengeschichte. Beginnend von der Geburt seines Vater in 1900 bis zu seinem plötzlichen Herztod 1961. Seit 1593 hat Philipp Kies Vorfahren im Ort. 417 Jahre ist die Familie nachweisbar.

Jetzt, 77 Jahre nach Kriegsende ist für Heinrich Kies die die Zeit da, wie er im Gespräch mit der WP gesagt, die Geschichte seiner eigenen Familie aufzuschreiben, im Kontext mit dem immer weiter um sich greifenden Nationalsozialismus.

In seinem Vorwort schreibt Heinrich Kies: „Einleitend soll auf eine Besonderheit in Niedermarsberg hingewiesen werden: Das Bollwerk des politischen Katholizismus, der ´Zentrums-Turm` steht länger als in allen anderen Orten des Sauerlandes aufrecht: Die NSDAP spielt bis März 1933 keine Rolle, Wahlkundgebungen werden gestört und verhindert, die örtlichen Nazis treten bis zur Reichstagswahl nicht öffentlich auf. Die Partei versteckt sich hinter einer Nationalen Bürgerliste.

Die Zentrumspartei erhält bei den Reichstagswahlen 1933 satte 63 Prozent, die NSDAP nur 8,3. Die Ortsgruppe der NSDAP wird erst im April 1933 gegründet. Der gewählte Amtsbürgermeister Brümmer hält sich zunächst im Amt. Dann aber nach der Aufhebung des Kirchenbannes der katholischen Bischöfe gegen die NSDAP Ende März 1933 und der Unterzeichnung des Reichskonkordats in Rom, öffnen sich alle Schleusen. Christenmenschen werden zu Konjunkturrittern, aufrechte Demokraten zu Opportunisten, Nachbarn zu Denunzianten.“

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Doch bis es so weit kommt, schreibt Heinrich Kies gut verständlich und in einer lockeren und mitnehmenden Art vom Leben um die Wende des vorigen Jahrhunderts. Wie seine Oma Christina das Kinderkriegen in der Mittelstraße zwischen Stall- und Hausarbeit erledigte. Etwa 60 jüdische Familie leben seit Generationen in Niedermarsberg, hat er den Erinnerungsbüchern der Historikerin Gudrun Banke über die jüdischen Mitbürger Marsbergs entnommen. Er hat viel Recherchearbeit vor dem Schreiben gemacht. „Dieses Buch über 12 Jahre Nationalsozialismus in Niedermarsberg stützt sich auf zahlreiche Dokumente in den Archiven, dem Nachlass der Protagonisten und der persönlichen Erinnerung, denn fast alle Akteure sind dem Autor aus den Nachkriegsjahren von Angesicht bekannt“, so Heinrich Kies in seinem Vorwort.

Im Juni 1918 verlässt Philipp das erste Mal Marsberg. Der Kaiser braucht Soldaten. Er kommt zur Kaiser Alexander Garde in Berlin Mitte. Nach dem ersten Weltkrieg macht er eine Ausbildung bei der Sparkasse. 1935 wird er als Kommunalbeamter vereidigt. Er erhält Prokura und ist zweite Führungskraft in der Sparkasse.

1933 leben 117 Juden in Nieder- und Obermarsberg. 79 leben in den umliegenden Dörfern. 1880 ist Niedermarsberg mit 4,8 Prozent der Ort in Westfalen mit den meisten Bürgern jüdischen Glaubens auf die Gesamtbevölkerung gesehen.

Unter der Überschrift „Fahnen heraus!“ beschreibt Heinrich Kies, wie die Niedermarsberger SA- und SS-Leute um Sturmbannführer Lüke und SS Rottenführer Oberhoff schon länger den Boykott jüdischer Geschäfte planen. „Am 31. März nahm die Boykottbewegung in Niedermarsberg ihren Anfang. Das Sägewerk Traugott und die Schrotthandlung Strauß wurden zur Einstellung der Arbeit gezwungen“, zitiert er den Sauerländer Anzeiger. Nach Feierabend sieht Philipp, wie jüdische Geschäftsleute ihre Schaufenster säubern. „Kauft nicht bei Juden“ ist an allen jüdischen Geschäftshäusern zu lesen.

Im Juni 1938 schießt Philipp den Vogel ab und wird Schützenkönig. Am 28. November wird er verhaftet, wegen Untreue.

Reichspogromnacht in Marsberg

In der Reichspogromnacht am 8. November wird die 100 Jahre alte Synagoge im Weist zerstört, ebenso weitere Judenhäuser. Heinrich Kies schreibt von einem „beispiellosen Raub und Vandalismus“. In den Restitutionsakten, den Wiedergutmachungsverfahren und anderen Quellen sind bisher 78 Niedermarsberger Bürger namentlich bezeugt, die aktiv und passiv an der Progromnacht teilgenommen haben.

Die Reputation und Popularität von Philipp in der Heimatstadt sind den NSDAP-Genossen ein Dorn im Auge. Berufliche Fehler und Untreue zwingen ihn, die Fallhöhe zwischen gesellsaftlicher „Beletage“ und dem sozialen Nichts am eigenen Leibe zu erfahren. Gefängnis, Straflager und Strafbataillon sind die Folge.

Später in der russischen Kriegsgefangenschaft in Mariupol am Asowschen Meer findet ein unglaubliches Treffen statt. Nicht zu fassen sind auch seine glückliche Heimkehr und die Teilnahme an seiner eigenen Beerdigung. Dr. Heinrich Kies: „Mein Vater hat zu all diesem Erlebten eisern geschwiegen.“

Geschaffen hat Dr. Kies ein starkes Stück Heimat- und Familiengeschichte. Er versteht sein Buch als ein Lehrstück für die Nachkommen. Den zweiten Teil seines Buches ergänzt er mit weiteren Fragmenten, Aussagen und Dokumenten zur Entwicklung des Nationalsozialismus speziell in einer Region, der Rolle der katholischen Kirche, der örtlichen Heilanstalten und Beschreibung der Täter.