Deifeld. Vor zwei Jahren wurde bei Florian Hellwig Leukämie diagnostiziert. Sein Schicksal bewegte so viele Menschen im Sauerland. So geht es ihm heute.
Weihnachten. In diesen Tagen geht der Blick von Florian Hellwig aus Deifeld bei Medebach im Hochsauerlandkreis noch öfter als sonst zurück. Vor genau zwei Jahren hat er in diesen Tagen den Kampf aufgenommen - für sein Leben und gegen die akute Leukämie, die den Alltag seiner fünfköpfigen Familie von jetzt auf gleich völlig auf den Kopf gestellt hat. Die wichtigste Nachricht heute, zwei sehr intensive Jahre später: „Es geht mir gut. Im Moment sind keine Krebszellen nachweisbar.“
Arzt zum Deifelder: „Wenn Sie jetzt nach Hause gehen, sind Sie in drei Wochen tot“
Das Schicksal des 38-jährigen Landwirts und engagierten Ehrenamtlers bewegt Anfang 2020 unzählige Menschen weit über die Region hinaus. In einer beispiellosen Aktion lassen sich deshalb Tausende als potenzielle Spender für Stammzellen registrieren – die einzige Chance für Florian und viele weitere Leukämie-Patienten. Zusätzlich werden in diesem Zuge rund 180.000 Euro gesammelt, um die Deutsche Knochenmark-Spenderdatei (DKMS) bei ihrer Arbeit gegen den Blutkrebs zu unterstützen.
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Gute Nachrichten für zwei an Leukämie erkrankte Sauerländer
Medebach: Typisierungsaktion der DKMS übertrifft alle Erwartungen
Unmittelbar vor Weihnachten 2019 reißt ein Anruf vom Hausarzt die bisherige Welt von Florian und Nicole Hellwig und ihren drei Kindern zwischen zwei und neun Jahren aus den Fugen: „Sofort in die Uniklinik Marburg, Verdacht auf Leukämie.“ Weil sich der Deifelder seit einigen Wochen ungewohnt grippig fühlt, hat er sein Blut kontrollieren lassen. Während in Marburg noch die Untersuchungen laufen, wird bereits der erste Chemotropf vorbereitet. Auf die Bitte, ob man noch ein paar Tage bis nach Weihnachten warten könnte, entgegnet der Arzt: „Wenn Sie jetzt nach Hause gehen, sind Sie in drei Wochen tot.“
Die Diagnose: Akute myeloische Leukämie in einer derart aggressiven Form, wie sie auch auf der erfahrenen Onkologie-Station in Marburg im Schnitt nur einmal im Jahr vorkommt.
Die Behandlung des Medebachers ist hart und kostet sehr viel Kraft
Zum Zeitpunkt der großangelegten Typisierungsaktion Ende Januar 2020, die der Freundeskreis mit der DKMS in der Schützenhalle Medebach organisiert und zu der etwa 5000 Personen kommen, geht es Florian Hellwig während seines zweiten Chemoblocks so schlecht, dass er nichts von diesem bewegenden Tag mitbekommt. Erst später sieht er die Bilder und liest die vielen berührenden Nachrichten, die ihm teilweise völlig unbekannte Menschen schicken.
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Knapp drei Monate nach der niederschmetternden Diagnose bekommt er nach mehreren Chemos Stammzellen transplantiert. Seine einzige Chance, aber selbst diese hat nur eine zehnprozentige Erfolgsaussicht, wie die Ärzte ehrlich sagen. Doch aufgeben ist keine Option für die junge Familie.„Nach der Transplantation ging es erst richtig los. Wir wussten, dass es hart wird. Doch so hart hätten wir es uns dann doch nicht vorgestellt“, erinnert sich Florian Hellwig. „So kraftlos war ich noch nie.“
Die Krebszellen in seinem Blut sind vorab durch sehr aggressive Chemotherapien bekämpft worden, die den ganzen Körper in Mitleidenschaft ziehen. Damit die fremden Stammzellen im eigenen Knochenmark anwachsen und nicht abgestoßen werden, muss zusätzlich das Immunsystem über lange Zeit völlig heruntergefahren werden. Jeder kleinste Infekt könnte eine Katastrophe auslösen, deshalb ist völlige Isolation angesagt. Bis heute sind dafür starke Medikamente nötig.
Leukämie: Es kommt zur Spender-Empfänger-Krankheit
Neben den gesundheitlichen Sorgen steht auch die Frage im Raum, wie es mit dem großen Bauernhof zuhause weitergeht. Vor allem für Landwirte und Beschäftigte im Gartenbau kommt Leukämie quasi einem Berufsverbot gleich, weil sie bei der Arbeit überdurchschnittlich vielen Krankheitserregern ausgesetzt sind.
Einige Wochen nach der Übertragung bekommt Florian die sogenannte Spender-Empfänger-Krankheit – eine Abwehrreaktion. Eigentlich ein gutes Zeichen, denn sie beweist, dass die neuen Stammzellen arbeiten. Aber sie verursacht einen quälenden Ausschlag am ganzen Körper. Fotos aus dieser Zeit zeigen ihn während dieser Phase aufgedunsen durch das Cortison, gleichzeitig um 20 Kilo abgemagert, komplett von Pusteln übersät. „Auf der Station habe ich öfters Patienten gesehen, die völlig gebrochen wirkten. Irgendwann war ich auch an diesem Punkt. Ohne Nicole hätte ich das nicht gepackt.“
Seine Frau besucht ihn täglich. „Love never fails – die Liebe hört niemals auf“. Das war ihr Trauspruch bei der Hochzeit, den sie sich jeden Tag aufs Neue sagen. Der Gedanke an die Kinder treibt sie an. Und die unglaubliche Anteilnahme von nah und fern: „Wir sind bis heute völlig überwältigt davon, das hat uns so viel Kraft gegeben!“
Unzählige Privatleute, Vereine, Feuerwehren und Firmen, die mit kreativen Aktionen eine Geldsumme sammelten, die selbst die erfahrenen Mitarbeiter der DKMS in Staunen versetzt. Die Freunde, die halb NRW und Nordhessen für die Typisierungsaktion mobilisieren. Die Menschen, die teilweise bis zu 240 Kilometer Fahrt dafür in Kauf nahmen, und noch viele, viele mehr, die sich schriftlich registrieren, so dass selbst der Deutschen Post die Unmengen Briefe aus der Region an die DKMS auffallen. Die Tanten, die schon im Morgengrauen in der Küche stehen, um mit Mundschutz und Handschuhen keimfreie Mahlzeiten zu kochen, wenn das Krankenhaus-Essen gar nicht mehr runterzukriegen war. Der Freundeskreis, der mit Transparenten und dem Musikverein vor dem Haus aufmarschierte und ein Ständchen zum Aufmuntern bringen. Ein Achtjähriger aus Siedlinghausen, der seine gesamte Spardose brachte. Die Ärzte und Pflegenden von der Station 331 in Marburg mit ihrer Kompetenz und Herzlichkeit. „Es haben so viele Leute an uns gedacht und uns unterstützt, dass wir es nicht schaffen, allen gebührend zu danken.“
Eltern sind die Hauptstützen in dieser Zeit und die Schwester „der absoluter Jackpot“
Eine Handvoll Menschen wollen Florian und Nicole Hellwig aber besonders hervorheben: Ihre Eltern, die ihre Hauptstützen in dieser Zeit waren. Der damalige Auszubildende Lars Volmer und Cousin Tobias Scheufgen, die mit der Familie über Monate jeden Tag den Bauernhof mit seinem großen Milchviehbestand am Laufen hielten. Und natürlich „der absoluter Jackpot“, wie die gesamte Familie es nennt: Florians Schwester Andrea, die sich als genetischer Zwilling erwies und ihre Stammzellen spendete.
Die Untersuchungsintervalle in der Klinik sind mittlerweile auf drei Monate ausgedehnt worden. Beim letzten Termin Anfang Dezember ist alles bestens – keine Krebszellen zu finden, die Ärzte sind sehr zufrieden.
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Dass diese Entwicklung nicht selbstverständlich ist, daran denken die Hellwigs täglich voller Demut. Einige Mitpatienten haben den Kampf gegen die Leukämie nicht überlebt. Auch die dreifache Mutter Katharina aus Brilon-Wald, für die zeitgleich ein Stammzellenspender gesucht wurde, ist trotz einer Transplantation im März verstorben.
Weg zurück in die Normalität ist noch lange nicht vorbei
Der Weg zurück in die Normalität ist noch lange nicht vorbei. Die Landwirtschaft ist mittlerweile deutlich verkleinert worden, eine Mitarbeiterin packt tatkräftig mit an. Einige Abläufe sind digitalisiert, im Frühjahr werden zudem zwei Roboter angeschafft, die das Melken übernehmen. Von seinen zahlreichen Ehrenämtern hat der engagierte Schütze, Feuerwehrmann und Fußballer einige abgegeben, dafür reicht die Kraft nicht mehr. Zwei Familienmitglieder sind jedoch neu dazugekommen: die beiden Pferde Maximus und Maddy. Die Tochter Julia sowie Schwester bzw. Tante Andrea reiten, Papa, Mama und die beiden Söhne Jakob und Johann haben einen 1a-Reitplatz hoch über Deifeld gebaut. „Eigentlich wollte ich nie Pferde auf dem Hof und habe gesagt, die kosten doch nur Geld und Zeit“, lacht Florian Hellwig. Doch jetzt sind die beiden ein richtiges Gemeinschaftsprojekt geworden, mit dem alle gerne Zeit verbringen und versuchen, die aufreibenden letzten Monate zusammen zu verarbeiten.
Weihnachten. In diesen Tagen geht der Blick von Florian Hellwig und seiner Familie auch nach vorn.