Marsberg. Abstand halten, keine Umarmung, kein Kuss zur Begrüßung. Unser Miteinander in der Corona-Pandemie hat sich verändert. Das sagt ein Experte dazu:
Das Miteinander in der Corona-Pandemie hat sich in den vergangenen zwei Jahren erheblich verändert. Auch aktuell greift die Pandemie wieder tief in das Leben aller ein. Die WP hat sich in einer Serie eingehend mit dem Thema beschäftigt, wie sich unser Miteinander durch die Pandemie verändert hat. In einer großen Online-Befragung dazu haben mehr als 3000 Menschen aus unserer Region Auskunft gegeben, wie sich ihr Zusammenleben mit anderen Menschen verändert hat oder was sie vermissen.
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Interview mit dem Ärztlichen Leiter der LWL-Kliniken Marsberg
Die meisten Befragten (63 Prozent) wünschen sich den Körperkontakt bei der Begrüßung zurück. Weshalb sind Berührungen so wichtig? Was macht es mit uns, wenn sie fehlen. Antworten auf die Fragen gibt im WP-Gespräch Priv.-Doz. Dr. med. Stefan Bender, Ärztlicher Leiter der LWL-Kliniken Marsberg.
Was bedeuten körperlichen Berührungen für uns Menschen?
Dr. Stefan Bender Berührung und die damit verbundene körperliche Nähe sind ein Grundbedürfnis des Menschen während des gesamten Lebens, von der Geburt bis zum Tod, ähnlich wie Atmen, Essen oder Trinken.
Was macht es mit uns, wenn Körperkontakte fehlen?
Wir wissen heute, dass körperliche Berührung äußerst wichtig ist gerade bei der frühkindlichen Entwicklung. Fehlt körperliche Berührung, kann das zu Störungen oder zu Verzögerungen in der psychischen und auch motorischen Entwicklung von Kindern führen. Es gibt sogar die These, dass ein komplettes Fehlen von Berührung dazu führt, dass Säuglinge gar nicht lebensfähig sind. Und der Tastsinn ist auch der erste Sinn, der sich beim Menschen entwickelt, schon ab der 6. oder 7. Schwangerschaftswoche. Aber auch über den weiteren Verlauf des Lebens sind körperliche Nähe und Berührung sehr wichtig. Vor allem für das Erleben von Geborgenheit und emotionaler Bindung. Das Fehlen von Körperkontakten kann zu körperlicher Krankheit, zu Störungen im Immunsystem und auch zu psychischen Störungen, z.B. einer Depression, führen. Allerdings sind die Menschen hier nicht alle gleich, für die einen sind Berührung und körperliche Nähe wichtiger als für andere.
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So wirkt das „Kuschelhormon“
Gerade auch für ältere Menschen?
Im Alter spielt der Tastsinn noch einmal eine besondere Rolle: Zwar werden im Laufe unseres Lebens alle Sinne allmählich schwächer, der Tastsinn aber oft weniger und später als die anderen Sinne. Bei älteren Menschen mit zunehmenden Störungen von Hören, Sehen, Riechen und Schmecken ist er oft der einzige Sinn, der noch ganz gut funktioniert, sodass gerade im Alter Körperkontakte eine sehr wichtige Rolle spielen können. Gerade hier kann die pandemiebedingte Kontaktreduktion besonders belastend sein.
Was lösen Körperkontakte denn eigentlich in uns aus?
In der Zwischenzeit gibt es neurobiologische Erkenntnisse, die verstehen lassen, was bei uns Menschen im Falle einer Berührung vor sich geht. Durch Berührungen werden im Gehirn Botenstoffe ausgelöst, z. B. das Hormon Oxytocin, manchmal auch als „Kuschelhormon“ bezeichnet. Das führt, u.a. durch Reduktion des Stresshormons Cortisol, einerseits dazu, dass Stress, Anspannung und Ängste und zum Teil auch Schmerzen nachlassen und es zu positiven Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem, also zum Beispiel Atmung und Blutdruck, kommt. Andererseits führt das dazu, dass positive Emotionen wie beispielsweise Vertrauen zu anderen Menschen entstehen. Dies erklärt auch noch einmal die besondere Bedeutung der Berührung bei der frühkindlichen Entwicklung: Oxytocin ist eine wichtige Voraussetzung, um emotionale Bindungen aufzubauen, und wird manchmal auch als „Bindungshormon“ bezeichnet.
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Berührung reduziert Stress
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der im Zusammenhang mit der Coronapandemie eine Rolle spielt. Denn es gibt ja neben der Empfehlung, zu anderen Menschen Abstand zu halten bzw. auf körperliche Nähe oder gar Berührung zu verzichten, auch die Empfehlung, sich selbst möglichst nicht im Gesicht, insbesondere im Bereich von Nase und Mund, zu berühren, um die Gefahr einer Virusübertragung zu reduzieren. Was macht das mit uns?
Wir Menschen berühren uns in der Regel viele hundertmal am Tag selbst, oft ohne es bewusst wahrzunehmen. Und das gerade im Bereich von Nase und Mund. Interessant: Schon der Fötus in der Gebärmutter macht das. Selbstberührungen führen wie Berührungen durch andere zu Reduktion von Stress und Anspannung und können zum Teil auch schmerzlindernd wirken. So kann also auch ein Fehlen solcher Selbstberührungen sehr belastend sein.
LWL in Marsberg
Seit über 200 Jahren gibt es den Psychiatrie-Standort Marsberg. Der LWL in Marsberg gliedert sich auf in die Erwachsenen-Psychiatrie, Kinder- und Jugend-Psychiatrie, das Pflegezentrum, den Wohnverbund und das Therapiezentrum für Forensische Psychiatrie.
Haustier kann positiv wirken
Nun ist auch zu erkennen, dass offenbar viele, insbesondere alleinstehende Menschen, sich im Rahmen der pandemiebedingten Isolierung Haustiere anschaffen. Kann das in Zusammenhang gebracht werden?
Tatsächlich kann ein „Kuscheldefizit“ durch Kontakte mit Haustieren - zumindest teilweise - kompensiert werden. Auch diese Kontakte führen zur Ausschüttung von Oxytocin.
Heißt das also zusammenfassend, dass Berührungen und Körperkontakt für unser Leben von ganz wesentlicher Bedeutung sind?
Ja, man könnte sagen, dass der Mensch nicht nur ein „animal sociale“ ist, also ein Lebewesen, für dessen Leben die soziale Bindung zu anderen Menschen lebensnotwendig ist, sondern auch ein „animal hapticum“, also ein Lebewesen, für das der Tastsinn lebensnotwendig ist. Mit anderen Worten: Berührung und körperliche Nähe sind für uns ein Lebenselixier!