Winterberg. In der NS-Zeit wurden sie enteignet, verfolgt und viele von ihnen ermordet. Doch die Winterbergers sollen nicht vergessen sein.

„Das kann man sich nicht vorstellen. Man taucht in diese Dokumente ein, liest fast alles, weil es so spannend ist – und könnte heulen.“ Ihre Recherchen haben Gisela Quick nicht kalt gelassen.

Sie hat versucht, so viel wie möglich über die jüdischen Menschen der Stadt herauszufinden, die in der Zeit des Nationalsozialismus enteignet, entrechtet und oft auch ermordet wurden. Teilweise unterstützt von Mitgliedern des Heimat- und Geschichtsvereins hat Quick online und in den Akten des Stadtarchivs geblättert.

Was sie an Fakten aufgetan hat, steht auf drei Gedenktafeln, die kürzlich an Gebäuden in der Innenstadt enthüllt wurden: in der Marktstraße 19 und in der Hauptstraße 21 und 22. Sie erzählen in sehr kurzen Worten die Geschichte der Familie Winterberger – ein Nachname, den die Vorfahren aufgrund eines Erlasses im frühen 19. Jahrhundert angenommen hatten.

Zwei Familienbetriebe enteignet

Da gab es zum Beispiel die Geschwister Julius, Ida und Paul Winterberger. Die Brüder hatten 1909 die S&M Winterberger Branntwein- und Liquörfabrik mit Getreidehandel übernommen, die ihre Vorfahren Moses und Salomon Winterberger 1875 gegründet hatten.

Vom Stadtmarketingverein finanziert

In zahlreichen anderen Städten in Europa erinnern sogenannte Stolpersteine an Verfolgte des Nationalsozialismus. In Winterberg hatte sich die Stadtpolitik dagegen ausgesprochen und stattdessen ein Gedenken in Form von weißen Tafeln mit schwarzer Schrift und dem Stadtwappen bevorzugt. Die Gestaltung ähnelt denen der Infotafeln an historischen Gebäuden. Bezahlt hat die Tafeln der Stadtmarketingverein.

Die Firma und der gemeinsame Wohnsitz der Geschwister und ihrer Familien lagen sich in der Hauptstraße fast genau gegenüber. 1937 wurde der Familie das Unternehmen im Zuge der Arisierung weggenommen. Gebäude und Betrieb wurden in der Folge verkauft; die Markenanteile sicherte sich die Stadt.

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Als der ehemalige Familienbetrieb 1944 aufgelöst wurde, waren die rechtmäßigen Eigentümer längst tot – Julius war bereits 1935 verstorben, Paul 1942 im Lager Jungfernhof bei Riga ermordet worden, die Schwester Ida starb im selben Jahr im Vernichtungslager Treblinka. Auch die Ehepartner der Geschwister überlebten nicht. Lediglich der Sohn von Paul, Horst, konnte in die USA fliehen. Dort kürzte er seinen Namen später zu Winter; er starb 1989 in New York.

„Zu erleben, wie dein Hab und Gut verramscht wird, deine Kinder nicht mehr zur Schule gehen dürfen, Menschen denunziert werden, nur weil sie angeblich dein Haus betreten haben – es ist unvorstellbar, war aber real“, sagt Quick.

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Sie hat etliche offizielle Dokumente im Stadtarchiv gefunden, aber sehr wenig Persönliches über die Betroffenen. Formulierungen wie „unbekannt verzogen“ in einigen Dokumenten fielen ihr besonders auf. Eine makabre Beschönigung, denn der Staat wusste genau, wo die Betreffenden waren: Er hatte sie schließlich hingeschickt.

Erinnerungen an Kinder der Familie

Nur einen Steinwurf von den Winterbergers in der Hauptstraße entfernt lebten in der Marktstraße 19 weitere jüdische Mitbürger desselben Namens: Emil Winterberger, der dort mit seinen Söhnen Max und Josef die Firma „Emil Winterberger und Söhne Manufakturwaren“ betrieb. Der Gründer und seine Ehefrau Emma flohen 1936, beide schon betagt, in die Niederlande, wo sie kurz nach Kriegsbeginn starben.

Auch ihr Familienunternehmen wurde zwangsenteignet und arisiert. Sohn Max floh in die Schweiz und überlebte, sein Bruder Josef und dessen Frau Erna wurden am 2. März 1943 deportiert und noch im selben Monat in Auschwitz ermordet. Ihre beiden Söhne wurden, vermutlich noch als Kinder, ins Ausland geschickt und konnten so überleben.

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Zumindest an diese beiden Jungen erinnern sich in Winterberg noch Zeitzeugen: Gisela Quick hat mit zwei alten Herren gesprochen, die mit ihnen befreundet waren. Die Kindheitserinnerungen haben das Bild etwas ergänzt. Doch auch wenn die Zeitzeugen aussterben, die Erinnerung soll es nicht. Deshalb die Tafeln. Zu deren Enthüllung seien „erfreulich viele Menschen“ gekommen, darunter auch fast alle heutigen Besitzer der betreffenden Häuser.