Medebach/Hanau. Kritische Fragen einer Enkelin an die Großmutter, die Nazizeit und Zweiten Weltkrieg komplett miterlebt hat.

Als Hitler die Macht ergriff, war Margret Ittermann, heute Margret Berg, ein Schulkind in Wanne-Eickel, bei Kriegsbeginn ein junges Mädchen, bei Kriegsende eine junge Frau.

Kinderlandverschickung, Landjahr, Evakuierung ihrer Schulen – ihr Weg während des Krieges hat sie vom stark bombengefährdeten Ruhrgebiet nach Thüringen, Niedersachsen, Pommern, Hamburg und Schleswig-Holstein geführt. Sie ist vor den Russen und später vor den Amerikanern geflohen.

75 Jahre später hat ihre Enkelin Melanie Hackel aus Hanau ein Buch über diese Zeit geschrieben. Viele Interviews hat sie dafür mit ihrer Großmutter geführt und deren Berichte mit Fotos, Dokumenten und historischen Hintergründen angereichert. Sie stellte viele kritische Fragen und wollte aus erster Hand wissen: Wie war diese Zeit? Wie konnte es dazu kommen und könnte es erneut passieren?

Auf Papier und online

Das Buch „Ein Zeitzeugeninterview: Aus dem Leben von Margret Berg im Zweiten Weltkrieg“ ist als Taschenbuch und E-Book erhältlich, ISBN 9783740767242.

Die 140 Hochglanzseiten gliedern sich in einen Interviewteil und einen Teil mit historischen Hintergründen, Bildern, Karten und Dokumenten plus detailliertes Quellenverzeichnis.

Vor dem Krieg

Stramme Nazis habe es in ihrer direkten Umgebung nicht gegeben, sagt Margret Berg. Dennoch prägte die Ideologie ihre Kindheit und Jugend: Wie es Vorschrift war, trat sie als Zehnjährige in die NS-Jugendorganisation der Jungmädel/Bund Deutscher Mädel ein und nahm an den verpflichtenden Veranstaltungen und den sonntäglichen Aufmärschen teil.

„Man konnte sich ganz schlecht ausschließen.“ Irgendein Staatsoberhaupt musste es geben, das war dem kleinen Mädchen klar. In ihrer Welt gab es keinen Grund, warum das nicht Hitler sein sollte.

Ihre Eltern, selbst nicht politisch interessiert, arrangierten sich mit dem Regime und versuchten, nicht aufzufallen. Über Politik sei überall, wenn überhaupt, hinter vorgehaltener Hand gesprochen worden, vor allem gegenüber Kindern. Zu groß die Furcht, die könnten etwas ausplaudern. „Wir waren Mitläufer“, gab sie ihrer Enkelin zu Protokoll.

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Margret verbrachte oft die Ferien bei ihrem Großvater in Medebach und spielte trotz Mitgliedschaft in der Hitlerjugend unbekümmert weiter mit ihrer Ferienfreundin, einem jüdischen Mädchen. Wenn sich die politische Lage auf ihr eigenes Leben auswirkte – Juden verhaftet wurden oder eine tote Ratte an der Medebacher Synagoge hing – habe sie das kaum verstehen können. Für sie hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun.

Im Krieg

Margret Berg erlebte den Krieg an vielen Orten. Bereits während der Teilnahme an einer Kinderlandverschickung musste sie ein Dreivierteljahr lang ohne ihre Eltern auskommen. Auch ins Landjahrlager, bei dem ausgewählte Mädchen in der Landwirtschaft halfen, ging sie allein.

Dass sie für die Teilnahme einen makellosen arischen Stammbaum vorweisen musste, störte sie damals nicht. „Ich fand das eher spannend, ein wenig Ahnenforschung.“ Aus der Lagerzeit erinnert sie sich an eine „tolle Gemeinschaft, da wurde abends zusammen gesessen und gesungen.“ Unter den „Arbeitslagern“, von denen in den Nachrichten die Rede war, stellte sie sich bis Kriegsende etwas Ähnliches vor.

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Später wurde ihre Haushaltungsschule von Bochum nach Köslin (heute Koszalin) in Pommern ausgelagert. Im nahen Stolp besuchte sie ab 1944 die Frauenfachschule und erlebte die einsetzende Fluchtwelle vor den vorrückenden Russen.

Nach dem Krieg

Entsetzt sei sie gewesen, als das Ausmaß des Terrors ans Licht kam. Den millionenfachen Mord „hätte ich mir nicht vorstellen können.“ Doch eine große Rolle habe das nach dem Krieg nicht mehr gespielt; niemand habe mehr gern darüber gesprochen.

Die Menschen waren mit den eigenen Sorgen beschäftigt und mussten zusehen, wie sie den Kopf über Wasser hielten. „Es war viel zerstört; es gab viel Arbeit und die Rationierung war nach dem Krieg schlimmer als zuvor. Jeder hatte Angst zu verhungern.“ Dennoch habe sie auch gute Erinnerungen an diese Zeit: Allen sei es gleich schlecht gegangen, dadurch sei die Solidarität untereinander enorm gewesen.

Für Margret war die Schule vorbei, sie suchte sich Arbeit. Bei einem erneuten Besuch beim Großvater lernte sie ihren späteren Mann kennen und heiratete nach Medebach, wo sie seit 1950 lebt. Sie ist relativ fit und vielseitig interessiert. Reichsflaggen und Hakenkreuze hat sie noch einmal wiedergesehen: Vor einigen Jahren wehten welche in einem Ort im Spessart, durch den sie im Urlaub kam. Das hat sie sehr erschreckt.

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Auch manche politischen Töne, auch im Ausland, gefallen ihr nicht. „Ich habe echt Angst vor diesen rechtsradikalen Randgruppen. Die haben wohl keine Vorstellung von dem, was mal war. Die Nachwelt kann ruhig wissen, wie es in der NS-Zeit und im Alltag war.“ Deshalb fand sie die Idee ihrer Enkelin, ein Buch zu schreiben, gut.

Für Melanie Hackel war es eine wertvolle Lektion, mit ihrer Oma intensiv über die damalige Zeit zu sprechen. Es half ihr zu verstehen, dass „es nicht nur die Oma ist, die kocht und pflegt, sondern dass sie davor schon ein Leben hatte.“