Olsberg. Hannah Gröning aus Bigge hatte in Chile viel vor. Doch Corona legt das Leben auch dort lahm. Und das Land macht plötzlich die Grenzen dicht.
Und abends gibt es Maultaschensuppe. Wieder zu Hause. Glücklich. Viele schöne Erinnerungen im Gepäck. Stolz darauf, sich alleine durchgebissen zu haben. Neue Freundschaften geschlossen, ein anfangs fremdes Land lieben und die eigene Heimat neu schätzen gelernt. Hannah Gröning ist wieder bei ihrer Familie. Von September bis jetzt war sie in Chile. Eigentlich wollte sie noch länger bleiben. Aber Corona hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Binnen weniger Stunden waren die Schotten in Südamerika dicht, eröffnete sich aber dennoch ganz kurz die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Jetzt oder vielleicht so schnell nicht wieder? Vielleicht krank werden in einem fremden Land? Santiago, Madrid, Frankfurt, Bigge. Heimreise. Aber fangen wir doch mal vorne an.
Kein englisch-sprachiges Land
Nach dem Abi im vergangenen Jahr bei den Bennies in Meschede ist für die heute 18-Jährige klar. „Ich möchte für eine Weile ins Ausland gehen. Aber nicht in ein englisch-sprachiges Land. Dann kam ich irgendwie auf Chile, habe mich im Internet erkundigt und mich von der Vielfalt der Region faszinieren lassen“, sagt die langjährige Messdienerin und Hobby-Fußballerin. „Work and travel“ – also arbeiten und reisen – lautet die Devise, unter der die Sauerländerin das ferne Land erkunden möchte.
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Ein Gewürzsalz als Souvenir
1. Was ist anders gelaufen, als Sie es sich vorgestellt hatten?
Ich dachte, dass ich mit der Sprache schneller klar kommen würde. Das war mitunter frustrierend. Man möchte zu einem Gespräch etwas beisteuern und seine Meinung sagen, aber man weiß nicht, wie man es formulieren soll. Das geht zulasten der Selbstsicherheit und das hätte ich mir so nicht vorgestellt.
2. Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Die Bereitschaft der Menschen, für die eigenen Rechte auf die Straße zu gehen. Mit welcher Macht und Kraft die Menschen trotz Tränengas und Wasserwerfern demonstriert haben, das war unglaublich. Auch als später die Quarantäne verhängt war, haben sie von den Balkonen und Fenstern aus gesungen oder Krach gemacht.
3. Wie war das für Sie bei der Heimreise im engen Flugzeug und der Angst sich vielleicht anzustecken und welches Erinnerungsstück haben Sie mitgebracht?
Wir wurden darauf hingewiesen, Abstand zu halten. Aber das geht ja eigentlich gar nicht. Von Madrid nach Frankfurt kam die Ansage, das Flugzeug in kleinen Gruppen zu verlassen. Aber dann sind doch alle rausgestürmt. In Frankfurt durften nur 40 Leute nacheinander raus und dann musste man fünf Minuten waren. Am Kofferband standen dann doch wieder alle eng beieinander. Mitgebracht habe ich eine gute Portion Merquén – das ist ein Würzsalz, das von den chilenischen Ureinwohnern Mapuche stammt.
hat Work & Travel in Chile gemacht.
Bei der chilenischen Botschaft in Frankfurt lässt sie sich ein Working-Holiday-Visum ausstellen und erfährt, dass sie binnen 30 Tagen bei der chilenischen Kriminalpolizei vorstellig werden muss, um sich anzumelden. Hier lernt Hannah die Bürokratie des Landes kennen. Stundenlang steht sie in Santiago in einer Menschenschlange an. Als sie endlich an der Reihe ist, erweisen sich die Sprachbarrieren als unüberwindbare Hindernisse.
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„Ich konnte kein Wort Spanisch und die konnten kein Wort Englisch.“ Es dauert Wochen, viele weitere Stunden in einer Schlange und braucht schließlich auch etwas Glück, bis Hannah endlich ihre Papier hat – nicht per Mail, nicht per Behördentermin in Santiago, sondern in der kleinen Stadt Pichilemu, wo sie ganz einfach in ein Büro marschiert, einen englischsprechenden Drogenfahnder findet und alles geregelt wird. „In Schlangen stehen und auf etwas warten – das ist Alltag in Chile. Darüber regt sich niemand auf. Davon können wir nur lernen.“
Das Land der Warteschlangen
Ihren ersten Job bekommt sie über eine Art Tauschbörse im Internet in einem Hostel. „Ich dachte anfangs ich sei dort bei Nico fürs Waschen, Putzen und den Zimmerservice zuständig. Doch dann war Nico plötzlich weg und ich musste den ganzen Laden alleine managen. Als ich das erste Mal kassieren musste, kannte ich nicht einmal den Zimmerpreis“, erinnert sich Hannah Gröning.
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Ihr Chef hat sich unterdessen auf den Weg nach Santiago gemacht. Denn die Reise der 18-Jährigen fällt in die Zeit, als die großen chilenischen Bürgerproteste ausbrechen, als das Auswärtige Amt in Deutschland eine Reisewarnung ausspricht. Mit Tränengas und Wasserwerfern geht die Regierung gegen die Protestler vor. Nicht nur in den großen Städten wird demonstriert. Auch in dem kleinen Surfer-Ort gehen die Leute auf die Straße, friedlich, singend. „Das hat mich beeindruckt.“
Thema Sicherheit
Es ist der erste Moment, bei dem Hannah an die sichere Heimat denkt. Aber: „Wenn ich gemerkt hätte, dass es zu gefährlich wird und ich zurück muss, hätte ich es getan. Je länger ich aber dort war, desto mehr Pläne habe ich geschmiedet.“ Auf das Hostel folgen weitere Stationen – darunter eine kleine Selbstversorgerfarm mit drei Aussteigern, Schafen, Kühen. Dort lernt sie andere Worker-and-Traveler kennen. „Und natürlich bin ich auch viel gereist und gewandert.“
Das Stichwort „Corona“ hat die 18-Jährige das erste Mal am 11. Februar in Punta Arenas auf dem Schirm. Mit Freunden unterhält sie sich über ein Kreuzfahrtschiff, das den Hafen nicht verlassen darf. Und eine befreundete chilenische Studentin kann nicht wie verabredet kommen, weil sie in Quarantäne ist.
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Hannah verfolgt die Entwicklung in den Medien. Die Anfangszahl von knapp 100 gemeldeten Fällen verändert sich schlagartig. „Zunächst habe ich vereinzelt Leute mit Mundschutz auf der Straße gesehen; wenige Tage später trug fast jeder so ein Teil. Die Polizei fuhr durch die Wohnviertel und es gab Lautsprecherdurchsagen. Danach bin ich eigentlich kaum noch raus.“ In die Supermärkte werden die Menschen nur noch in kleinen Gruppen eingelassen. Es bilden sich auch dort die so vertrauten Menschenschlangen.
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„Ich habe gesehen, dass die Kühltheken relativ schnell leer waren; aber Klopapier gab es immer.“ Dann kommt die offizielle Ausgangsperre. Und auch Hannah Gröning darf von 22 bis 5 Uhr ihre Ferienwohnung nicht verlassen. Restaurants schließen, Freizeiteinrichtungen, Taxis befördern noch maximal eine Person.
Tierprojekt in Bolivien
Hannah hat eigentlich noch viel vor: Anfang April will sie an einem Freiwilligenprojekt mit Tieren in Bolivien teilnehmen; die Rückreise ist mit einem Frachter von Brasilien aus geplant. Aber mehr und mehr werden die Grenzen zugemacht. „Ich habe mit meinen Eltern telefoniert, die rasante Entwicklung mit einem unguten Gefühl verfolgt und die Heimreise gebucht.“ Jeden Abend checkt sie, ob der Flieger startet oder nicht. Dann wird auch ihr Flug gecancelt. Umbuchungen sind nicht möglich, zumal die Hotline der Fluggesellschaft überhaupt nicht mehr erreichbar ist. „Ich hatte mich schon darauf eingestellt, auf die Rückholaktion der Bundesregierung zu warten. Mein Vater hat mir dann geraten: fahr direkt zum Flughafen, geh an den Schalter und versuch irgendwie rauszukommen.“
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Taxi, Flughafen, Warteschlange, Nummer ziehen und sie hat Glück. „In vier Stunden geht eine Maschine, aber sie müssen sich beeilen“, sagt die Dame. Noch im Laufen winkt Hannah nach einem Taxi, fährt die 30 Minuten zurück zur Wohnung, packt ihre sieben Sachen und ergattert vermutlich eine der letzten Möglichkeiten, nach Hause zu kommen.
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„Ich habe mich in Chile sehr wohl gefühlt, aber in so einer Krise bin ich froh zu Hause zu sein. Es ist ein anderes Gefühl von Sicherheit. Ich glaube, dass unser Gesundheitssystem hier anders und besser funktioniert.“ Sicherheitshalber ist Hannah für 14 Tage in häusliche Quarantäne gegangen. Im Herbst will sie Bio-Medizin-Technik studieren. „Ich habe mir mit 13 Jahren mal beide Arme gebrochen und weiß, wie es ist, gehandicapt zu sein. Ich freue mich auf das Studium.“ Und vermutlich auf Mutters Maultaschensuppe.