Hochsauerlandkreis. . Wie eine junge Frau es geschafft hat, dem Teufelskreis der Magersucht und Bulimie zu entkommen. Heute will sie ein Vorbild für ihre Kinder sein.
Dass mit ihr etwas nicht stimmt, spürt Susanne* erst, als sie mit einem Freund essen geht. Nur ein paar Hähnchen-Nuggets. Das wird schon gehen. Doch Susanne bekommt nicht einen Bissen herunter. Erst Jahre und Therapien später wird sie wissen, dass die Magersucht da schon längst die Kontrolle hatte.
Kontrolle und Macht
Damals, mit Anfang 20, hält sich Susanne bloß für „komisch“, findet sich damit ab, dass sie eben „nicht normal“ ist. Dass sie krank sein könnte, weiß sie nicht. Essstörung, Anorexie, Bulimie: Diese Worte, die ihr weiteres Leben bestimmen würden, waren ihr nie begegnet. Vielleicht auch, weil es vor mehr als 20 Jahren im Hochsauerlandkreis noch an Aufklärung und Anlaufstellen fehlte.
Zahlreiche Therapiesitzungen
Auch die Gründe für ihr krankhaftes Essverhalten werden Susanne erst in den zahlreichen Therapiesitzungen bewusst: Ihr Elternhaus war schwierig, als junges Mädchen wurde sie oft nicht gesehen. Ein Kommentar ihrer Mutter hat sich besonders in Susannes Gedächtnis eingebrannt: „Du bist das dickste Kommunionskind.“ „Die Dickste“: Mit diesem Stempel lebt sie, bis sie 15 Jahre alt ist. Dann ändert dieses eine Erlebnis alles: Susanne wird Opfer sexueller Gewalt. Noch heute lassen sie bestimmte Eindrücke atemlos und mit rasendem Herzen erstarren. Mittlerweile ist Susanne klar, dass sie mit der Magersucht zurückholte, was sie damals verlor: Die Kontrolle und die Macht über sich selbst.
Sie fängt an Sport zu machen, Diäten sind keine Ausnahme, sondern die Regel, 20 Kilogramm verliert sie schließlich. Dass das bedenklich sein könnte, merken Freunde, Bekannte und die Familie nicht. Stattdessen wird Susannes Figur jetzt positiv kommentiert. „Wenn du dünn bist, ist alles besser“: Dieser Gedanke treibt sie immer weiter an – die erhoffte Zufriedenheit bleibt aus, der Teufelskreis der Magersucht schließt sich.
Krankheit führt immer mehr in die Isolation
Irgendwann steht für Susanne fest: Sie wäre lieber tot, als dick zu sein. Erschreckend oder krankhaft findet sie diesen Gedanken als junge Frau nicht. „Für mich war es ja, als hätte ich die vollständige Kontrolle. Ich dachte immer, dass ich aufhören könnte, wenn ich es wollen würde.“ Ein Trugschluss, der dazu führt, dass Susanne sich mehr und mehr isoliert. Freunde und Bekannte, die Fragen stellen, belügt und täuscht sie: „Ich habe schon gegessen. Ich mache eine Ernährungsumstellung.“ Ausflüchte, die ihr Umfeld schnell akzeptiert. Wieso auch nicht?
Susanne wirkt gesund, ist leistungsfähig, und stolz auf sich. Obwohl sie nachts absichtlich friert, um mehr Kalorien zu verbrennen. Obwohl ein feiner blonder Flaum ihren Körper überzieht, der versucht, die Kälte auszugleichen. Obwohl sich in ihrem Kopf beständig das Gedankenkarussell um den eigenen Körper und das Nicht-Essen dreht.
Viel essen oder gar nicht
Schließlich rutscht Susanne in die Ess-Brechsucht, die Bulimie, ab. „Es ging nur noch viel essen oder gar nicht.“ Sie ist wie ferngesteuert. Auf den Großeinkauf folgt die Fressattacke, auf die Fressattacke das Brechen. „Das Essen zum Klo transportieren“, nennt Susanne das heute, weil sie die Scham vor dem, was hinter den Worten steckt, noch immer spürt. Die Supermärkte wählt sie damals so aus, dass sie in keinem mehrmals hintereinander einkauft. „Die Leute hätten geredet. Warum sollte ich als Einzelperson mehrmals die Woche einen Großfamilien-Einkauf machen?“ Hätte Susanne damals nicht ihren Freund und heutigen Mann kennengelernt, vielleicht wäre sie an der Bulimie zerbrochen.
Wie ein kalter Entzug
Doch sie zieht zu ihm, ist gezwungen, sich dem Alltag seiner Familie anzupassen. „So habe ich mir die Möglichkeit genommen, zu brechen und wieder neu einzukaufen.“ Ihr Freund ist der Mann fürs Leben, das ist Susanne sofort klar. Der einzige Grund, der sie dazu bringt, die Bulimie zu überwinden. „Das war wie ein kalter Entzug. Ich habe es geschafft. Aber ohne Hilfe. Deshalb hat sich die Essstörung bloß verlagert.“
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Dass Susanne schließlich schwanger wird, ist nicht selbstverständlich. Viele Mädchen und Frauen bekommen in der Magersucht ihre Periode nicht mehr, der Hormonhaushalt gerät völlig aus dem Gleichgewicht. In ihren zwei Schwangerschaften spielt die Essstörung für Susanne keine Rolle mehr. „Man isst ja schließlich für das Kind.“ Doch mit den Geburten kommt auch der Wunsch, um jeden Preis dünn sein zu wollen zurück. „Ich wollte aber, dass meine Kinder eine gesunde Mutter und ein Vorbild haben.“ Susanne entschließt sich, eine Reha zu machen, isst, bekommt eine Gesprächstherapie und merkt, dass Sport für sie Entspannung bedeutet. „Die Reha war für mich außerdem der erste Schritt in die einjährige ambulante Therapie.“ Zwar lernt sie, ihr Essen zu strukturieren, aber nicht, wie sie damit umgehen kann, was das Essen psychisch mit ihr macht.
Erst elf Wochen in einer Spezialklinik und eine Traumatherapie machen es für sie einfacher, die Krankheit zu kontrollieren. „Mir wurde auch der Zahn gezogen, dass ich wieder vollkommen gesund werden könnte.“ Stattdessen kann Susanne die Krankheit mittlerweile mit ihrem Verstand in Schach halten. „Ich muss meine Strukturen beibehalten, habe gelernt, mich im Spiegel ansehen zu können und weiß, wann ich schlimme Tage habe, an denen ich beispielsweise nicht unbedingt versuchen sollte, eine Hose zu kaufen.“
Mehr Akzeptanz füreinander
Wenn sie mitbekommt, dass jemand in ihrem Umfeld eine merkwürdige Diät macht, sucht Susanne das Gespräch, erzählt, wenn es passt, von ihren Erfahrungen. Ihren Kindern will sie vor allem eines vermitteln: „Ihr seid genau so richtig, wie ihr seid.“ Mehr Akzeptanz füreinander würde sich Susanne auch in der Gesellschaft wünschen. „Warum müssen wir das Äußere unseres Gegenübers ständig kommentieren? Wenn ich etwas zugenommen habe, sagen mir die Leute zum Beispiel unaufgefordert, dass ich ihnen weiblicher aber besser gefalle. Das ist für mich ein Trigger, weil die Angst vor dem Dicksein nie ganz weg sein wird.“
*Name geändert, um die Privatsphäre der Protagonistin und ihrer Familie zu schützen.
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