Brilon. Madfeld ist geschockt: Der Amokfahrer von Münster kam aus ihrem Dorf bei Brilon – aber fassen können sie es nicht. Ein Feature.

Sie sitzt auf der Bank vor dem Haus in der Sonne und strickt. Was? „Eine Patchwork-Decke aus Resten für arme Menschen in der Dritten Welt.“ So, als wäre nichts passiert. Thea Gruß unterbricht die Handarbeit.

Fragend schaut die 85-Jährige auf, mustert den Besuch. Ob sie Jens R. kenne? Keine 150 Meter Luftlinie von ihrem Haus entfernt sei der Amokfahrer aus Münster aufgewachsen. „Das war der Täter?“ „Ja.“

Die alte Dame ringt mit sich. „Ich habe das im Fernsehen gesehen. Furchtbar. Das tut mir so leid für die Eltern. Es war ihr einziger Sohn.“ Nein, gesehen habe sie ihn schon lange nicht mehr. „Ich würde ihn heute sicher nicht mehr erkennen.“

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Früher habe er lange Haare und einen Zopf gehabt. „Das war auffällig.“ Dass er noch andere Menschen mit in den Tod gerissen hat, will ihr nicht in den Kopf, dass er psychisch labil gewesen sein soll, davon habe sie bislang keine Ahnung gehabt.

Für viele nicht vorstellbar

Einem guten Freund, der mit Jens R. Kindheit und Jugend in Madfeld verbracht hat, ist das nicht unbekannt. Er habe gewusst, das dieser psychisch labil sei. Früher sei er manchmal vielleicht etwas extrem gewesen, aber nicht auffälliger als andere Jungs in seinem Alter auch.

„Am Samstagabend habe ich mit Bekannten auf dem Balkon gesessen, als der Anschlag von Münster in den Nachrichten kam. Wir haben noch darüber diskutiert, warum so jemand unbedingt noch andere Menschen mit umbringt.“

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Wenig später erhält er per Smartphone die Nachricht, dass dieser jemand der Freund aus Kindertagen gewesen sei. Grundschule in Madfeld, Abitur am Petrinum in Brilon. „Ich hätte doch niemals geglaubt, dass der so eine Tat begeht.“ Die letzten Jahre habe man sich aber aus den Augen verloren.

Es sprengt die Vorstellungskraft der Menschen, dass jemand aus ihrem Ort dieses Verbrechen begangen haben soll. Namentlich wollen an diesem sommerlichen Nachmittag die meisten in Madfeld nicht mit dieser Tat irgendwie in Verbindung gebracht werden. Sichtlich geschockt reagiert ein junger Mann, der zum Fußballspiel geht. TuS Madfeld I spielt in der Kreisliga B zu Hause gegen SV Brilon. „Der ist von hier. Das höre ich zum ersten Mal.“ Drei Schritte geht er zurück, weiß nicht, was er sagen soll.

Viele kennen Täter noch als Kind

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Wie viele im Ort. Ortsvorsteher Heinz Bickmann fällt es schwer, darüber zu reden. Der 73-Jährige hat den Täter als Kind in der Nachbarschaft aufwachsen sehen. Die Todesfahrt und der Selbstmord des 48-Jährigen lassen ihn nicht kalt. „Mit großer Bestürzung habe ich davon erfahren, dass er der Täter ist.“ Das muss als Antwort in diesem Moment reichen. Das Dorf begreift langsam, dass jemand, der in ihrer Mitte zu Hause war, zu solch einem Verbrechen in der Lage ist.

Das Dorf selbst ist schnell beschrieben. Bernhard-Bartmann-Straße heißt die Durchgangsstraße, Vor dem Elternhaus von Jens R. parkt ein Zivilfahrzeug der Kripo. bestückt mit zwei Beamten. Weiter gibt es einen Bäcker, einen Metzger, ein Lebensmittellädchen, eine Kneipe, die meist nur sonntags Betrieb hat und eine Tankstelle. 1272 Frauen, Männer und Kinder leben hier, 15 Kilometer nordöstlich von Brilons Innenstadt. Drumherum in der Landschaft glänzen die Rotoren der Windräder in der Sonne. Und über dem Ort thront die katholische St.-Margaretha-Kirche. Heute ist der Tag der Erstkommunion. Auf dem Plakat für die Kinder im Schaukasten heißt die Frage des Tages: „Jesus, wo wohnst du?“

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Es ist eine der vielen Fragen, die am Sonntag nicht beantwortet werden können. Ungläubigkeit löst Fassungslosigkeit und umgekehrt ab. „Dass so jemand vom Dorf ist, das macht mich fertig“, sagt Sascha Schmiedekamp. „Berlin, München oder London, ja, aber doch nicht Madfeld. Der 24-jährige Monteur lebt seit einem Jahr hier. Er schaut ins Leere: „Das vermutet doch niemand. In Sichtweite des Elternhauses des Täters stoppt ein 55-Jähriger sein Rad. Ob er die Nachricht schon gehört habe? „Nein, welche?“ Der Täter aus Münster sei aus Madfeld. „Das kann nicht wahr sein“, entfährt es ihm. „Ich weiß nicht, was solche Leute im Kopf haben?“ Ja sicher kenne er Jens R. von früher. „Ich bin sieben Jahre älter. Besonders aufgefallen ist er mir damals nicht. Von irgendwelchen Faxen ist mir nichts bekannt.“ Der Reporter kommt als Überbringer der schlechten Nachrichten nicht gut an. Das ist nicht nur einmal spürbar. „Halten Sie mich daraus“, tönt eine Bewohnerin, um die 50 Jahre alt. Sie weiß nicht, wie sie auf die Ansprache wechseln soll. „Dass der Mann aus Madfeld kommen soll, höre ich das erste Mal. Und wenn ich es gewusst hätte, Ihnen hätte ich es nicht gesagt.“ Und Tschüs.

Aufatmen gibt es in Olsberg. Zunächst sprechen am Samstagabend alle Quellen und informierten Kreise davon, der Täter stamme aus Olsberg. Selbst der Ortsteil Elleringhausen wird nicht verschont. Hier lebt ein Mann mit demselben Namen, ist aber zehn Jahre jünger. Nach ersten Irritationen klärt sich die Verwechslung auf. Jens R. ist in Olsberg geboren, hat nie dort gelebt.

Olsberg wird zuerst genannt

Wolfgang Fischer, Bürgermeister in Olsberg, hat eine unruhige Nacht hinter sich. Am Samstagabend läuft das Smartphone des Christdemokraten über. Olsberg ist in aller Munde. Der Bürgermeister sitzt im Frühlingskonzert des Musikvereins „Eintracht“, als seine Stadt weltweit als Ursprungsort des Amok-Fahrers genannt wird. „Publicity, die kein Mensch braucht.“ Ganz gleich, wo der Täter herkommt, spürt er eine große Verunsicherung bei den Menschen. „Wer war von uns noch nicht am Kiepenkerl in Münster? Das Schlimme an dieser Nachricht ist für viele: Man fühlt sich nirgendwo mehr sicher.“

Helmut Schmücker, Vorsitzender der Fachwelt Olsberg und CDU-Ratsmitglied, mahnt zur Beruhigung in einer überdrehten Welt. „Je öfter so etwas passiert, desto mehr gewöhnen sich die Leute daran. Wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen.“ Das meint Thea Gruß auch.

Drei Tote bei Amokfahrt in Münster

Ein Mann ist am 7. April in Münster mit einem Kleintransporter in eine Gruppe von Menschen gerast. Zwei Menschen starben. Anschließend erschoss er sich nach Angaben der Polizei selbst. Eine vierte Person starb Wochen später. Vier Monate nach der Tat erlag ein weiteres Opfer seinen schweren Verletzungen.
Ein Mann ist am 7. April in Münster mit einem Kleintransporter in eine Gruppe von Menschen gerast. Zwei Menschen starben. Anschließend erschoss er sich nach Angaben der Polizei selbst. Eine vierte Person starb Wochen später. Vier Monate nach der Tat erlag ein weiteres Opfer seinen schweren Verletzungen. © REUTERS/ | WOLFGANG RATTAY
Viele Menschen wurden verletzt, einige von ihnen schwer.
Viele Menschen wurden verletzt, einige von ihnen schwer. © dpa | -
Um 15.27 Uhr war der Fahrer in die Gruppe von Menschen gefahren.
Um 15.27 Uhr war der Fahrer in die Gruppe von Menschen gefahren. © dpa | -
Sie hatten vor der beliebten Gaststätte „Kiepenkerl“ in der Innenstadt von Münster gesessen.
Sie hatten vor der beliebten Gaststätte „Kiepenkerl“ in der Innenstadt von Münster gesessen. © dpa | Ina Fassbender
Bei dem Amokfahrer handelt es sich um Jens R. – nach Angaben der Polizei war der 48-Jährige psychisch labil und hatte Selbstmordabsichten.
Bei dem Amokfahrer handelt es sich um Jens R. – nach Angaben der Polizei war der 48-Jährige psychisch labil und hatte Selbstmordabsichten. © dpa | Friso Gentsch
Die Polizei sperrte die Innenstadt von Münster weiträumig ab.
Die Polizei sperrte die Innenstadt von Münster weiträumig ab. © dpa | Bernd Thissen
Ein Großaufgebot von Rettungskräften war im Einsatz.
Ein Großaufgebot von Rettungskräften war im Einsatz. © dpa | Friso Gentsch
Spezialkräfte der Polizei sprengten die Tür zur Wohnung des Täters auf und durchsuchten die Räume. Sie fanden Waffenattrappen und Feuerwerkskörper.
Spezialkräfte der Polizei sprengten die Tür zur Wohnung des Täters auf und durchsuchten die Räume. Sie fanden Waffenattrappen und Feuerwerkskörper. © REUTERS/ | LEON KUEGELER
„Ganz Münster trauert über dieses schreckliche Ereignis. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Getöteten. Den Verletzten wünschen wir schnelle und baldige Genesung“, sagte Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU).
„Ganz Münster trauert über dieses schreckliche Ereignis. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Getöteten. Den Verletzten wünschen wir schnelle und baldige Genesung“, sagte Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU). © dpa | Friso Gentsch
In der Nacht nach der Amokfahrt wurden am Tatort Spuren gesichert.
In der Nacht nach der Amokfahrt wurden am Tatort Spuren gesichert. © dpa | David Young
Die ersten beiden Todesopfer wurden erst nach Einbruch der Dunkelheit abtransportiert. Laut Staatsanwaltschaft und Polizei handelt es sich um eine 51-jährige Frau aus dem Kreis Lüneburg und einen 65-jährigen Mann aus dem Kreis Borken.
Die ersten beiden Todesopfer wurden erst nach Einbruch der Dunkelheit abtransportiert. Laut Staatsanwaltschaft und Polizei handelt es sich um eine 51-jährige Frau aus dem Kreis Lüneburg und einen 65-jährigen Mann aus dem Kreis Borken. © dpa | David Young
In der Nacht wurde der Tatwagen abgeschleppt.
In der Nacht wurde der Tatwagen abgeschleppt. © dpa | David Young
Trauernde zündeten Kerzen an.
Trauernde zündeten Kerzen an. © dpa | Friso Gentsch
Münster in Trauer.
Münster in Trauer. © dpa | Friso Gentsch
Am Morgen nach der Tat säuberten Feuerwehrleute den Bereich vor der Gaststätte.
Am Morgen nach der Tat säuberten Feuerwehrleute den Bereich vor der Gaststätte. © REUTERS/ | WOLFGANG RATTAY
Kerzen und Blumen wurden am Tatort vor dem Kiepenkerl in Münster niedergelegt.
Kerzen und Blumen wurden am Tatort vor dem Kiepenkerl in Münster niedergelegt. © dpa | Guido Kirchner
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