Münster. . Münster erwacht am Sonntag etwas langsamer als sonst. Die belebte Studentenstadt gibt sich am Tag nach der Amokfahrt ruhiger als sonst.

Die ersten steigen ab und schieben. Ohne, dass sie die Polizei dazu auffordern müsste. Dabei ist der Weg gerade wieder frei gegeben. Absperrgitter ragen zwar noch in die gepflasterte Fahrbahn, aber an jedem anderen Tag hätten sich die Radfahrer nicht beeindrucken lassen und lässig daran vorbeigeschlängelt.

Ein Schuss

Aber dieser Tag ist nicht wie jeder andere Tag. Neunzehn Stunden etwa ist es her, dass ein Mann mit seinem VW-Bus hier über das Kopfsteinpflaster rast und den Wagen ungebremst in die Gäste lenkt, die auf der Terrasse vor dem bei Touristen beliebten Restaurant Kiepenkerl sitzen. Den Krach haben sie gehört, dann Schreie, aber zum Glück nichts gesehen, erzählen Heike und Detlef am Tag danach. Zurück, weg hier, hätten ihnen andere zugerufen. Die beiden, die eigentlich am Kiepenkerl vorbeigehen wollten, wählten einen anderen Weg, um bald darauf einen Knall zu hören. „Das war der Schuss“, glaubt Detlef im Nachhinein. Der Schuss, mit dem der Amokfahrer sich noch im Wagen selbst tötet.

Blumen vor dem Restaurant Kiepenkerl
Blumen vor dem Restaurant Kiepenkerl © Ralf Rottmann

Über Stunden ist danach dieInnenstadt gesperrt, bis in die Nacht hinein. Geschäfte müssen schließen, Kneipen ihre Gäste Hals über Kopf nach Hause schicken. Jetzt, am Morgen danach sind alle Spuren gesichert, die Sperrung wieder aufgehoben. Die ersten Radfahrer sind unterwegs, Spaziergänger führen ihre Hunde Gassi, Eltern schieben ihre Kinderwagen an der Unglücksstelle vorbei durch die Journalisten und Polizisten. Ganz in der Nähe gehen zwei Touristen mit Fotoapparat über den Domplatz. „Guck mal, wie schön“, sagt eine Frau zu ihrem Mann, bleibt stehen und blickt einen Moment auf die Kirche. Andere kommen von der Touristeninformation im historischen Rathaus mit einem Stadtplan in der Hand. Tags zuvor habe sie noch einem Besucher den Kiepenkerl empfohlen, erzählt eine der Mitarbeiterinnen und überlegt, wo die Führung zum Zeitpunkt des Unglücks wohl war, die sie für andere Gäste organisiert hatte.

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Direkt neben dem Rathaus, vor dem Gasthaus Stuhlmacher, sitzen gegen Mittag die ersten Gäste wieder draußen, trinken Bier. Doch es gibt, anders als sonst, ein paar freie Tische. Die Stadt wacht langsam auf, wenn auch gemächlicher als üblich an Frühlingssonntagen. Marie Rosenbaum aus Brilon verbringt ihn am Aasee. Partys werden hier an diesem Tag nicht gefeiert. „Es ist alles etwas ruhiger als sonst“, erzählt die 22-Jährige, die derzeit eine Ausbildung in Münster macht.

Nur auf Umwegen ist sie am Vorabend nach Hause gekommen: Ihre Wohnung liegt etwa 500 Meter von der des Amokfahrers (ebenfalls aus Brilon) entfernt; die Polizei hatte auch dieses Gebiet am Vorabend abgeriegelt. Das Haus, in dem der Sauerländer im Dachgeschoss lebte, liegt im münsterischen Südviertel, eine nicht übertrieben schicke, aber vor allem bei Studenten beliebte Wohngegend.

Immer freundlich

„Er hat immer freundlich gegrüßt“, sagt Katharina (25). Sie wohnt schräg gegenüber im Eckhaus, kniet auf dem Bürgersteig, putzt ihr Rennrad. Am Abend zuvor durfte sie ihre Wohnung nicht verlassen; da hat sie drinnen ein zweites Fahrrad repariert. Zweimal habe sie einen Knall gehört, erzählt sie. Da hatte die Polizei die Wohnungstür aufgesprengt. Aber zu diesem Zeitpunkt wusste Katharina noch nicht, ob es nicht vielleicht Sprengstoff in der Täterwohnung war, der explodierte. Sich zu überlegen, was der Mann in den Jahren, die man nebeneinander lebte, dort womöglich alles gelagert hatte, „das war schon ein komisches Gefühl“, sagt sie.

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Aber kein so komisches, dass es die Stadt und das Leben hier wirklich verändern wird, sagt die junge Frau – und stimmt darin mit so vielen anderen überein. Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn Islamisten hinter der Autoattacke gesteckt hätten, überlegt Heike vor dem Kiepenkerl. Sie ist noch einmal mit Detlef hergekommen, um eine Kerze am Unglücksort aufzustellen, das am Vortag Erlebte zu verarbeiten. „Erst einmal ändert sich die Atmosphäre“, sagt sie. „Aber auf Dauer wird Münster die ruhige, entspannte Stadt bleiben, die sie ist.“