Siedlinghausen. . Chancen und Risiken auf den Punkt gebracht: Forscher Dr. Dr. Niehaves der Universität Siegen berichtet, wie Entwicklungen die Welt verändert.
Das Auto findet sein Ziel allein, der Kühlschrank bestellt frische Eier und der Dieb hat keine Freude am gestohlenen Handy, weil dieses nur mit dem Gesicht des Eigentümers zu entsperren ist. Jeder hat von künstlicher Intelligenz gehört, von virtueller und angereicherter (augmented) Realität, von der Digitalisierung. Aber wie tiefgreifend die Veränderungen sein werden, die sie hervorruft – das ist schwer abzusehen.
Einer, der sich auskennt, ist Dr. Dr. Björn Niehaves, Professor an der Universität Siegen. Rund 50 Personen wollten jüngst im Kolpinghaus Siedlinghausen den Vortrag des Wirtschaftsinformatikers hören, der auch schon in Harvard, Japan, Dänemark und England geforscht hat. Eingeladen hatte ihn der Stadtmarketingverein Winterberg mit seinen Dörfern.
Zur Person
Dr. Dr. Björn Niehaves ist Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Siegen und Direktor des Forschungskollegs (FoKoS). Er hat über 200 Publikationen in seinem Fachgebiet verfasst.
Daneben bekleidet er zahlreiche weitere Funktionen, u.a. ist er Gründer und Leiter des Centers for Responsible Innovation & Design, das sich mit ethischen und gesellschaftlichen Aspekten in der Forschung befasst.
Fest steht: Die Möglichkeiten hören nicht mit dem Kühlschrank auf, der Eier bestellt. „Wäre die Digitalisierung ein Restaurantbesuch, wären wir gerade beim Gruß aus der Küche“ zitierte Niehaves den Deutschland-Chef von Amazon, Ralf Kleber.
Viele Beispiele hatte der Forscher im Gepäck: ein Paar Armbänder, die Berührungen übertragen können. So könnte in Fernbeziehungen ein Partner sein Armband streicheln und auch tausende Kilometer entfernt spürt sein Schatz die Berührung, weil sein eigenes Armband sich entsprechend sanft um sein Handgelenk schließt.
Oder der Pullover, der über Sensoren misst, in welcher Stimmung sein Träger ist. Das Ergebnis wird mittels Farbwechselkragen der Welt mitgeteilt.
Auf die Umsetzung kommt es an
Beispiele, die im ersten Moment zum Lachen reizen mögen – so ging es auch dem Vortragspublikum. Spätestens im zweiten Moment aber kam bei einigen die Frage auf: „Was bedeutet das konkret? Und will ich das wirklich? Was ist mit Datenschutz, Wahlfreiheit, Privatsphäre?“
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Tiefgreifende, wichtige Fragen. Es sei an der Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. „Denn worüber wir hier reden, ist keine Utopie“, betonte Niehaves. „Es wird in diesem Augenblick daran geforscht, auch an der Uni Siegen.“ Die Webseite von Niehaves Lehrstuhl listet vier laufende und fünf abgeschlossene Projekte auf.
Auto überwacht den gereizten Fahrer
Fördervolumen: knapp acht Millionen Euro. Eines der Projekte erforscht, wie soziale und emotionale Aspekte in technische Systeme integriert werden können – z.B., indem ein Assistenzsystem im Auto erkennt, ob der Fahrer gereizt, wütend oder übermüdet ist. Was genau das System tun soll, wenn es solche sicherheitskritischen Gefühle erkennt – das entscheiden nicht die Forscher, sondern ein Unternehmen. In diesem Fall Audi.
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„Computer, die Gefühle verstehen, sind keine Zukunftsmusik und Digitalisierung ist nicht die altbekannte IT und ein bisschen was drauf“, hielt Niehaves fest. Sie dringt in alle Lebensbereiche vor, verbindet sie miteinander – und kann positive Ergebnisse liefern. Da sind Suchtkranke, die mittels virtueller Realität lernen, in typischen Schwachwerde-Situationen stark zu bleiben.
Da sind Firmen, die Personal effektiver einplanen können, weil Datenströme ihnen verraten haben, zu welcher Zeit vermutlich viele Kunden vorbeikommen. Aber da ist eben auch der Fernseher, der Gespräche abhört, und der Kühlschrank, der seinem schokoladenhungrigen Besitzer sagen kann: „Sorry, geschlossen. Du bist ohnehin zu dick.“
„Werte können einbezogen werden“
Utopia und Schreckensvision: Digitalisierung hat das Potenzial für beides. Die Entwicklung an sich ist weder positiv noch negativ, erst recht nicht umkehrbar. „Wir müssen entscheiden, welche Formen der Digitalisierung wir wollen. Es ist nicht so, dass dabei menschliche Werte zwangsläufig auf der Strecke bleiben müssen.
Man unterschätzt den eigenen Einfluss.“ Nicht an der Entwicklung teilzunehmen, sei keine Option. „Hilfreicher wäre es, sich einzubringen und jenseits von Dogmen und Pauschalisierung zu denken.“ Außerdem riet Niehaves dem Publikum, in großen Dimensionen zu denken und gemeinsam zu agieren. Es bringe nichts, wenn jeder Laden und jedes Museum sein eigenes Digitalisierungsprojekt starte.
Essenziell sei eine Strategie. Die hätten aber bisher nur wenige Unternehmen. Außerdem werde oft der Fehler gemacht, alle Ressourcen in die Entwicklung der Technik zu stecken und zu vergessen, dass diese von Menschen angewendet werden soll. Menschen, die vielleicht noch Ängste damit verbinden. „50 Prozent Aufwand für die technische Entwicklung und 50 Prozent für Einbindung und auch Marketing. Das wäre besser.“
Was sich der Forscher wünscht
Nach dem Vortrag sprach Niehaves kurz mit der WP über seine Vorstellungen. „Deutsche Verbraucher sind skeptischer als andere. Sie haben ein Grundbedürfnis nach Sicherheit. Theoretisch könnten deutsche Firmen sich also profilieren – mit Ideen und Produkten, die dieses Bedürfnis bedienen.“
Was hielte er zum Beispiel von einem Smartphone-Knopf, mit dem sich Tracking, Lokalisierung und Werbung einfach mal abschalten ließen? „Mich würde diese Option freuen.“ Wahlfreiheit sei ein Kern seiner persönlichen Vision von einer gelingenden digitalen Zukunft. „Was ich gern sehen würde, sind Technologien, die auf individuelle Bedürfnisse eingehen und dem Anwender jederzeit die volle Wahlfreiheit lassen.“
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