Arnsberg/Winterberg. . Kein Urteil im Fall der zehnfachen Mutter vor dem Arnsberger Schwurgericht. Stattdessen ist ein Ende der Verhandlung noch nicht in Sicht.
Noch kein Urteil und noch viele weitere Verhandlungstage: Der achte Verhandlungstag vor dem Arnsberger Landgericht gegen eine zehnfache Mutter ist - entgegen den Erwartungen - am Freitag ohne Urteil zu Ende gegangen. Es steht im Raum, dass der Verteidiger Stephan Lucas möglicherweise ein weiteres psychiatrisches Gutachten beantragen wird. Um 17 Uhr hatte der Anwalt eine dreistündige Unterbrechung angeregt, um einen weiteren Antrag vorzubereiten. Das Gericht beendete die Sitzung am Freitag nach mehr als acht Stunden.
Verteidiger hat Zweifel an Aussagekraft des Gutachtens
Im Laufe der Sitzungstermins am Freitag hatte der Verteidiger erhebliche Zweifel an der Aussagekraft des Gutachtens von Dr. Thomas Schlömer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, geäußert. Ein weiteres Gutachten könnte noch einmal die Frage untersuchen, ob die Frau psychisch belastet und damit wegen seelischer Störung unter Umständen in ihrer Schuldfähigkeit beeinträchtigt war. Diese Frage sei ihm unzureichend beantwortet worden.
Auch interessant
Mit einer erneuten Überraschung war der Prozess gegen eine zehnfachen Mutter am Freitag vor dem Arnsberger Schwurgericht gestartet. In einem Schreiben teilte der Jugendhilfeverein Let's go dem Landgericht mit, dass die 40-jährige Angeklagte einer Mitarbeiterin des Vereins schon in der Verhandlungspause der letzten Sitzung mitgeteilt habe, ihre Einlassungen in der Verhandlung würden nicht den Tatsachen entsprechen. Das Geständnis sei gelogen, um den Kindern die Aussage zu ersparen. Sie habe angegeben, was die Gegenseite habe hören wollen. Einen Tag später teilte sie der Pflegemutter mit, sie möge aber bis um Ende des Prozesses Stillschweigen wahren. Das Schreiben des Jugendhilfevereins wurde verlesen.
"Keinerlei Anhalte für Persönlichkeitsstörungen"
Verteidiger Lucas versuchte zu erklären, wie schwierig die Gefühlslage seiner Mandantin sei. "Es wäre leichter, wenn das Amtsgericht in Medebach ein Urteil gefällt hätte. Es hätte sich trauen müssen, über eine fahrlässige Körperverletzung zu entscheiden, so Lucas. Es sei doch völlig unklar, wann exakt der Tag gewesen sei, an dem sie das Leiden des Kindes hätte vermeiden können. Sie habe niemals bewusst durch ihr Nichtstun den Tod des Jungen herbeiführen wollen.
Ab 9.30 Uhr stellte Dr. Thomas Schlömer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sein Gutachten vor. Er kam u.a. zu dem Schluss, dass seiner Meinung nach keinerlei Anhalte für Persönlichkeitsstörungen oder neurologische Störungen der Angeklagten vorlägen. Den sexuellen Übergriff, den sie ihrem Lebensgefährten zur Last legt, habe sie nicht angezeigt, damit man ihr die Kinder nicht wegnehme. Die schönsten Momente in ihrem Leben seien die Geburten ihrer Kinder gewesen; die größte Fehler, dass sie den Zustand des Jungen zu spät erkannt und sie ihren Ex-Lebensgefährten kennengelernt habe.
Aus psychiatrischer Sicht voll schuldfähig
Dr. Schlömer kommt zum dem Ergebnis, dass die Angeklagte aus psychiatrischer Sicht voll schuldfähig sei. Auch eine posttraumatische Belastungsstörung nach der mutmaßlichen Vergewaltigung schließe er aus. Dagegen spreche eindeutig der Umstand, dass es im April 2014 noch einmal zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr nach der mutmaßlichen Vergewaltigung im Herbst 2013 mit dem Lebensgefährten gekommen sei. Besagtes Posttrauma wäre ein wichtiger Aspekt, weil es bei der Strafbemessung um eine mögliche Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung gehen könnte.
Gerade an der Stelle hakte Verteidiger Stephan Lucas immer wieder nach. Er war alles andere als zufrieden mit der Arbeit des Gutachters. Bislang habe dieser nicht mehr herausgebracht als die Aussagen, dass sich die Frau "wie im Watte gepackt" und in einem "Notbetrieb" gefühlt habe und dass sie den schlechten Ernährungszustand der Kinder zu spät erkannt habe. Ihm fehle komplett eine Schilderung, wie es der Frau zwischen Weihnachten und dem Tod des Jungen im Februar gegangen sei. "Das wirkt, als hätten Sie erst vor Jahren mit meiner Mandantin gesprochen. Dazu muss sie doch etwas gesagt haben." Der Umstand des einmaligen einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs nach der mutmaßlichen Vergewaltigung sei ihm allein kein Kriterium, um eine posttraumatische Belastungsstörung auszuschließen, so Lukas.
Auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt
Verteidiger Oliver Brock, der den Ex-Lebensgefährten der Angeklagten als Nebenkläger vertritt, stellte die Frage, ob der sexuelle Übergriff seines Mandanten für die Beurteilung einer posttraumatischen Belastungsstörung überhaupt als Tatsache zu Grunde gelegt werden dürfe. Denn das Verfahren gegen den 50-Jährigen vor dem Amtsgericht Brilon ruhe zur Zeit, daher sei überhaupt nicht klar, ob es diesen Übergriff gegeben habe.
Die zehnfache Mutter ist u.a. wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Ihr 25 Monate alter Sohn war gestorben, weil er massiv unterernährt war. Die neun Monate alte Schwester war ebenfalls in einem schlechten Pflege- und Ernährungszustand, konnte aber noch gerettet werden. Der Fall wird vor dem Schwurgericht verhandelt; für den Freitag waren noch Plädoyers und eigentlich auch ein Urteil erwartet worden. Nach einem langen Verhandlungstag sah es danach nicht mehr aus.
Scharfe Kritik des Verteidigers am Gutachter
Der Gutachter hatte sich scharfe Kritik des Verteidigers anhören müssen. "Mit dem Ergebnis können wir nichts anfangen. Hier wurden die Regeln der Kunst nicht eingehalten. Sie bieten uns keinerlei Anknüpfungstatsachen", so Lukas. Es habe sehr wohl Symptome für ein Trauma gegeben und niemand wisse, wann diese Symptome sich vielleicht im Alltag durchgeschlagen hätten. Vielleicht bei den Gelegenheiten, in denen seine Mandantin eigentlich reagieren und vielleicht einen Arzt hätte anrufen wollen. Die Angeklagte wolle sich allem in einem psychiatrischen Gespräch unter vier Augen öffnen, aber nicht noch einmal gegenüber diesem Gutachter, so Stephan Lucas.
Auf Nachfrage der Vorsitzenden Richterin Dorina Henkel erklärte Dr. Schlömer: Selbst, falls hypothetisch eine posttraumatische Belastungsstörung vorgelegen hätte, hätte die Frau die Notwendigkeit eines Handelns erkennen und im Fall der Kinder reagieren und rechtzeitig einen Arzt aufsuchen müssen. Seiner Meinung nach sei sie einsichts- und steuerungsfähig gewesen.