Arnsberg/Winterberg. Am zweiten Prozesstag gegen eine zehnfache Mutter vor dem Landgericht hat der Kinderarzt den schlechten Ernährungszustand der Kinder geschildert.

  • Zweiter Prozesstag gegen zehnfache Mutter vor dem Landgericht
  • Anwalt fordert von Zeugen Fakten und keine Schlussfolgerungen
  • Prozess in Arnsberg wird am nächsten Freitag fortgesetzt

Es ist ein Fall, zu dem jeder eine Meinung hat und bei dem jeder den Kopf schüttelt: Eine Frau hat neun Kinder, zieht alleine ins Sauerland, ein Sohn stirbt, weil er nachweislich zu wenig zu essen und zu trinken bekommen oder zu sich genommen hat. Die ebenfalls unterversorgte kleine Schwester überlebt. Wie kann so etwas passieren? „Und weil jeder glaubt, sich ein Urteil bilden zu können, geraten wir hier in Stimmungsmache“, befürchtet Verteidiger Stephan Lucas. Gestern war der zweite Verhandlungstag vor dem Arnsberger Landgericht gegen die 40-jährige Mutter, der Körperverletzung mit Todesfolge und vorsätzliche Körperverletzung vorgeworfen werden.

Fakten und keine Schlussfolgerungen

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„Selbst Polizeibeamte sagen hier nicht: die Wohnung der Familie war sauber, sondern: ich hatte den Eindruck, es sei extra geputzt worden. Hier werden Schlüsse gezogen, statt Fakten benannt So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Lucas ist empört. Er unterstellt, dass seine Mandantin vorverurteilt werde, ohne dass überhaupt die näheren Umstände geklärt seien - in einer Familie mit neun Kindern und vielen Baustellen. „Ja, sie hätte früher handeln müssen. Aber vielleicht war es eine Situation, der sich die Mutter fälschlicherweise gewachsen glaubte.“ Daher könne man nicht von einer Absicht sprechen. Auch die Hebamme, die der Frau in Winterberg zur Seite gestellt wurde, gibt gestern zu Protokoll: „Sie kam mir sehr taff vor und gut organisiert. Ich betreue Familien mit vielen Kindern, wo es ganz anders aussieht.“

Erbarmungswürdiger Zustand

Fakt ist jedenfalls, dass der zweijährige Junge und seine neun Monate alte Schwester im Februar 2014 in einem erbarmungswürdigen Zustand ins Hüstener Karolinen-Hospital kamen. Dr. Martin Rey, früherer Chefarzt dort, ist seit 1982 Kinderarzt und sagt, er habe noch nie ein derart unterernährtes Kind wie den Jungen gesehen. „Er war völlig ausgemergelt und in desolatem und schlechtem Pflegezustand. Er war komatös, hat beim Anlegen der Infusion keine Abwehr gezeigt, was bei einem Kind völlig normal wäre.“ Der Junge wog 6550 Gramm, 10,5 Kilo wären altersgemäß gewesen. Der Natriumgehalt im Blut sei extrem hoch gewesen, was für eine Austrocknung spreche. Dr. Rey: „Hätte man den Jungen einen Tag vorher gesehen, hätte man das Rad vielleicht noch umdrehen können.“

Elektrolyt-Entgleisung?

Das Mädchen hat sich unterdessen gut entwickelt, zeigt aber nach Aussagen eines Vormundes Auffälligkeiten beim Essen. Es lässt den Füllstand des Topfes nicht aus den Augen und bekommt immer als Erste etwas.

Zu klären bleibt noch eine Mutmaßung, wonach Geschwisterkinder an einer „Entgleisung der Elektrolytwerte“ leiden sollen.

Staatsanwalt Klaus Neulken bohrt nach: „Im Gegensatz zum Prozess in Medebach hat die Angeklagte jetzt gesagt, die Kinder hätten in den letzten Tagen vor dem Vorfall keinen akuten Brechdurchfall gehabt. Wie lassen sich Austrocknung und Mangelernährung dann begründen?“ Bei einem Kind, das keine Magen-Darmerkrankung hatte, kann sich der Mediziner diesen Zustand nicht erklären. Der Junge sei schon über einen längeren Zeitraum in einer schlechten Grundkonstitution gewesen und habe generell wenig Energie gehabt. Dr. Rey: „Die Schwester des verstorbenen Jungen hat sich inzwischen ganz normal weiter entwickelt. Ich habe sie später noch einmal gesehen. Daher stehe ich dazu, dass dem Jungen vermutlich zu wenig Nahrung angeboten wurde.“

Ausgetrocknet und zu leicht

Zumindest etwas besser war der Zustand des neun Monate alten Mädchens; er sei nicht lebensbedrohlich, aber auch sie sei „deutlich ausgetrocknet und zu leicht“ gewesen. Dieser Status hätte sich aber ohne medizinische Versorgung in den nächsten zwei Tagen gravierend verschlechtert, so Dr. Rey. Eine Stoffwechselerkrankung als Ursache für die Gewichtsabnahme schließt der Kinderarzt aus.

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