Winterberg. . Die Barrierefreiheit von Wanderwegen wird derzeit von Rollstuhlfahrern des Bigger Josefsheims in einem Naturpark-Projekt getestet.

  • Barrierefreiheit von Wanderwegen in Naturpark-Projekt getestet
  • Zwei Griffe an der Wand heißt noch lange nicht barrierefrei
  • Mit dem Rollstuhl die Wanderroute im Selbstversuch getestet

Barrierefrei. Dieser Begriff ist aus keinem Bauvorhaben mehr wegzudenken und fast schon zum Modewort geworden. Die Barrierefreiheit von Wanderwegen wird derzeit von Rollstuhlfahrern des Josefsheims in einem Naturpark-Projekt getestet, über das ich schreiben soll. Mein etwas forscher Vorschlag: Den Kurs rund um den Kahlen Asten möchte ich selber im Rollstuhl mitfahren und erleben!

Körperliche Herausforderung

Zugegeben, ich bin vorher aufgeregt. Schaffe ich diese körperliche Herausforderung? Und vor allem: Wie werde ich mit meinen noch unbekannten Rollstuhlkollegen und ihrem Begleiter Jürgen Mies klar kommen? Was sagen sie überhaupt zu meinem Selbstversuch, überschreite ich damit nicht vielleicht ihre persönlichen Grenzen?

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Diese Sorge habe ich mir zum Glück umsonst gemacht. Kirstin Potthoff, André Bräuer, Marie Cramer, David Bromm und Jens Niggemann sind so herzlich und hilfsbereit, dass ich mich sofort wohl bei ihnen fühle. Sie erklären mir geduldig, auf was ich alles achten muss.

Natursteinpflaster und Wespen

Rollstuhl ist nicht gleich Rollstuhl und barrierefrei nicht gleich barrierefrei. Deshalb haben wir unterschiedliche Gefährte: David einen Rollator, Kirstin einen Elektro-Rollstuhl, Marie einen Elektro-Scooter, Jens, André und ich einen Handrollstuhl. Los geht´s - aber nur für die anderen. Ich hänge am Parkplatz gleich an einem Steinchen fest und mühe mich dann durch eine Gosse. Nächste Klippe: Der Weg zum Astenturm ist - wie im Sauerland so üblich - nicht komplett plan, sondern hat ein leichtes Gefälle nach links. Für mich fühlt es sich an, als würde ich jeden Moment mit Karacho Richtung Lenneplätze ins Tal purzeln.

Barrierefreiheit zum Ziel gesetzt

Der vor zwei Jahren neu gegründete Naturpark Sauerland-Rothaargebirge hat sich gemeinsam mit seinem bundesweiten Dachverband das Projekt „Barrierefreie Naturerlebnisangebote“ auf die Fahne geschrieben. Zum Naturpark Sauerland-Rothaargebirge gehören große Teile der Kreise Hochsauerland, Olpe, Siegen-Wittgenstein und des Märkischen Kreises.

Verantwortlicher Projektleiter ist Christoph Hester als Regionalmanager für den Hochsauerlandkreis. Sein Ziel ist es, mehrere bereits bestehenden barrierearmen Angebote vorerst im Raum Olsberg und Winterberg darauf zu testen, inwieweit sie erreichbar und befahrbar sind und ob bzw. welche Gastronomie- und Bildungsmöglichkeiten am Rande liegen.

Ergebnisprotokoll

Um aus erster Hand zu erfahren, wo eventuelle Schwierigkeiten, Verbesserungspotentiale und Chancen für das gesamte Projekt liegen, hat Christoph Hester den Mobilitätspaten Jürgen Mies vom Josefsheim Bigge und eine Gruppe Rollstuhlfahrern mit ins Boot genommen. Bisher haben sie den Rundweg am Hillebachsee und am Kahlen Asten getestet, drei weitere Strecken sind noch geplant.

Über jeden Test wird ein Ergebnisprotokoll angefertigt, mit dessen Hilfe ab Herbst dann in Workshops mit den Projektpartnern und den Touristikern vor Ort sowie ggf. auch interessierten Gastronomen ein Konzept für einen der ausgetesteten Wege erarbeitet wird. Auf dessen Grundlage wiederum werden Finanzierungsmöglichkeiten erörtert und ein Handlungsleitfaden für Angebote in anderen Naturparks entwickelt.

Zielgruppe dieses Naturpark-Projektes sind primär Menschen mit Behinderungen, aber ebenso auch Senioren oder Familien mit Kinderwagen. Christoph Hester dazu: „Wir stehen erst am Anfang eines großen Projektes. Von der Umsetzung profitieren nicht nur die betroffenen Menschen, sondern auch die Regionen, die sich dadurch neue Gäste erschließen.“

Das optisch so schöne Natursteinpflaster auf der Sonnenterrasse scheint ebenfalls fast unüberwindlich. Am Ausgangspunkt des Rundweges wird es dann schlagartig leichter: Der Weg ist eben, viele Hinweistafeln nah genug am Weg oder sogar niedrig gebaut. Einige sind jedoch zwei Schritte vom Weg entfernt - da komme ich nicht hin, ebenso wenig wie auf die gemütlichen Sauerland-Liegen. Ungefähr 200 Meter entfernt liegt die Lennequelle in der Heide - für mich heute unerreichbar wie auf einem anderen Stern.

Ich verliere im wahrsten Sinne des Wortes die Augenhöhe zum Alltag. Es ist ungewohnt, statt meiner sonstigen 1,85 Meter Körperlänge nun auf Sitzhöhe reduziert zu sein und ständig zu anderen aufzublicken. Kirstin bestätigt mir dieses Gefühl aus eigener Erfahrung: Viele Passanten oder die „Läufer“ sehen tatsächlich über uns hinweg.

Eine Wespe umschwirrt mich. Wieder eine Herausforderung! Entgegen meiner sonstigen Art kann ich jetzt nicht einfach hektisch wegrennen, ich sehe noch nicht mal, was sie hinter mir macht.

Nicht mehr als sechs Prozent Steigung

Mehr als sechs Prozent Steigung sollte ein barrierefreier Weg nicht haben, empfiehlt Jürgen Mies. Das ist nicht nur für Rollstuhlfahrer wichtig, sondern auch für ihre Begleiter, die sie schieben müssen. Sechs Prozent Steigung und vielleicht noch fünfzig Meter Strecke - das ist zu Fuß sonst kaum spürbar. Doch jetzt arbeiten Jens, André und ich uns mit unseren Handrollstühlen Meter für Meter vor. Kirstin bietet mir an, mich zu ziehen, doch ich will es jetzt einfach wissen.

Mit dem Rollstuhl unterwegs - Stimmen

Jürgen Kröger, Werkstattrat

Ich hatte einen Termin in Münster.  Die Fahrt war bei der Bahn angemeldet und gut geplant. Doch leider war unser Zug morgens hier in Bigge nicht barrierefrei und wir mussten einen späteren nehmen. Alle folgenden Verbindungen mussten neu organisiert werden. Ohne Mobilitätstrainer hätte ich das nicht geschafft.

Silvia Gau, Bigge

Für mich ist es besonders schwierig, wenn unterwegs etwas nicht klappt, weil ich nicht so gut sprechen kann. Da wird es schwierig, selbst alles neu zu organisieren, wenn eine Verbindung nicht klappt.

 Aliyaa Saba, Bigge

Ich mache zurzeit ein Praktikum in Meschede und fahre jeden Tag mit dem Bus dorthin. Das habe ich mit dem Mobilitätstrainer geübt und fühle mich auf der Strecke sicher. Die meisten Busfahrer sind sehr hilfsbereit und nett. Problem ist, wenn man negative Erfahrungen macht, wird man unsicher und traut sich nicht mehr allein zu fahren.

Jens Niggemann, Bigge

Ich fahre sehr viel mit dem Zug und habe festgestellt, dass seit dem Fahrplanwechsel im Dezember   einige Züge barrierefrei sind, andere nicht. Für mich ist das sehr schwierig, weil man sich nicht darauf verlassen kann, dass die geplante Fahrt auch tatsächlich klappt.

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André erinnert mich daran, mich nach vorne zu lehnen und dadurch einen besseren Schwerpunkt zu haben. Er selber kann das durch seine Erkrankung mit ihrem für mich unaussprechlichen Namen nicht und hat es dadurch noch schwerer als ich. Mehrere Wanderer gehen grußlos vorbei. Ein älterer Mann dagegen hat gar keine Berührungsängste. Er packt einfach unsere Rollstühle mit einem flotten Spruch und schiebt uns das letzte Stück.

Betroffene zu wenig einbezogen

Ich frage meine Begleiter, ob so eine Geste für sie okay oder eher aufdringlich ist. „Nein, Hilfe von anderen ist uns immer willkommen“, sagt Kirstin. Und was ist ihnen unterwegs wichtig? Neben einem solchen Weg wünschen sie sich eine gut erreichbare Gastronomie - am liebsten mit selbst öffnenden und breiten Türen, Tischen, unter die ein Rollstuhl passt, sowie durchdachten Toiletten: „Zwei Griffe an der Wand heißt noch lange nicht barrierefrei“, sagt Jürgen Mies. Die wirklich Betroffenen würden bei Planungen im Vorfeld oft viel zu wenig mit einbezogen.

Nach über zwei Stunden stehe ich aus meinem Rollstuhl wieder auf. Aber versprochen - den Blickwinkel, den ich aus dieser Position auf den Alltag gewonnen habe, den werde ich nicht mehr vergessen!

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