Erndtebrück. Juri Propp ist zurück vom Hilfskonvoi in die Ukraine und schildert seine Eindrücke. Die geflüchteten Frauen finden auch in Sicherheit kaum Ruhe.
Wüsste man es nicht besser, könnte man es für einen unbeschwerten Abend unter Freunden halten. Bei Weißwein und Radiomusik bereiten die jungen Frauen aus der Ukraine, alle ein bisschen schick gekleidet, das Abendessen zu: Hühnergeschnetzeltes mit Kartoffelecken. Beim Schneiden und Würzen entspannt sich im Haus von Jurij Proppp in Erndtebrück ein munteres Gespräch, doch der Frohsinn ist nicht von Dauer. Wie könnte er auch in der jetzigen Situation.
Der Blick auf die Nachrichten und Videos auf dem Smartphone und Anrufe aus der Heimat machen den Krieg, vor dem die Frauen und Kinder geflohen sind, wieder greifbar. Vom 1700 Kilometer entfernten Winnyzja, einer 365.000-Einwohner-Stadt in der Zentralukraine, hat Propp sie wie geplant nach Erndtebrück gebracht. Hier sind seine Partnerin, seine Nichte, seine Schwägerin und Bekannte sicher vor Raketen und Bomben.
Kisten voller Hilfsgüter
Wie die heimischen Asse beim Wasalauf abgeschnitten haben, will der passionierte Skilangläufer Propp zwei Tage nach dem Großereignis beim Besuch des Reporters wissen – bislang hatte er schlicht vergessen, sich kundig zu machen. 40 Stunden reine Fahrzeit im Auto sowie Kistenschlepperei im westukrainischen Lwiw, wohin er Hilfsgüter gebracht hat, liegen hinter ihm. Neben Nahrung, Arzneien und Batterien waren unter anderem auch Nachtsichtgeräte im Gepäck.
Entgegengenommen hat diese sein Bruder Waldemar, der vorerst in Lwiw bleibt, so lange es sicher ist – und seinem Bruder vor der Heimfahrt einen Aufkleber auf die Heckscheibe presste. „Russisches Kriegsschiff, fick dich“, steht, etwas frei übersetzt, darauf zu lesen – in Anlehnung an den Funkspruch einer Gruppe von auf einer Insel stationierten ukrainischen Soldaten, die sich umzingelt trotz Aufforderung nicht ergeben wollten und in Gefangenschaft genommen wurden. Die Brüder, selbst in Russland geboren, fieberten bei den Olympischen Winterspielen noch mit den Läufern ihrer alten Heimat, doch das ist lange her.
Trotz und Ohnmacht
Der Trotz, der aus der derben Beleidigung spricht, sei stellenweise vor Ort spürbar gewesen, die Fahrt zum Lager führte vorbei an Männern, die Schützengräben ausheben, Sandsäcke und Checkpoints besetzen. Aus dem, was da ist, werden Tarnnetze geknüpft. Propps Bruder will zunächst in der Westukraine bleiben, wo der Krieg noch fern ist, kann aber im Gegensatz zu den meisten anderen Männern jederzeit das Land verlassen – er ist als Deutscher nicht wehrpflichtig.
Gefühlt sei die halbe Welt an der polnisch-ukrainischen Grenze unterwegs, sagt Propp, den vor allem die Warteschlangen an der Grenze nicht aus dem Kopf gehen. Weil die Männer zum Kriegsdienst müssen, sehe man nur Frauen und Kinder, alle mit kleinem Gepäck, die allermeisten zu Fuß.
„Wenn du die Kinder dort siehst, wie sie da Minusgraden stehen, kommen dir die Tränen, auch wenn du es nicht willst“, sagt Propp. „Du willst eigentlich alle mitnehmen und hierhinbringen.“ Dankbar ist er dem Erndtebrücker Autohaus-Boss Klaus Löcker, der einen Kleinbus zur Verfügung stellte – so konnten immerhin neun Personen mit nach Deutschland fahren.
Die Kinder sollen möglichst schnell in den Kindergarten oder in die Schule, ihre Mütter müssen sich zunächst einmal orientieren. Wie lange sie bleiben, ist völlig unklar. Man stellt sich auf das Schlimmste ein, schließlich lasse Putin schon jetzt alles in einer Weise beschießen, als wolle er das Land und seine Geschichte auslöschen. „Es ist eine Schande, dass ihn viele noch für ein Vorbild halten“, sagt Propp. Russland sei wieder auf dem Stand der 40er Jahre, zurück im Stalinismus, dennoch.
Desinteresse jenseits des Urals
Seine Kontakte in die alte Heimat zeigen ihm, dass ein Teil der Leute verstehe, was vor sich gehe. Andere glauben, dass die Ukrainer ihr eigenes Land bombardieren, um Russland schlecht aussehen zu lassen – weil das im Fernsehen gesagt wird. „Und ich glaube, weite Teile des Landes, hinter dem Ural, würde das alles kaum interessieren, wenn jetzt nicht alles so teuer wäre.“
Teuerungsraten sind für die Geflüchteten eine der geringsten Sorgen. Helena aus Winnyzja hat gerade erst eine Wohnung gekauft und renoviert, musste diese ebenso zurücklassen wie ihr Unternehmen für Kosmetik und Stylistik. Doch am schlimmsten sei, sagt sie weinend, die Nachrichten zu verfolgen und nichts tun zu können. Ihr Ex-Mann und ihr Vater (56) wurden einberufen. Es sei das erste Mal gewesen, dass sie ihren Vater habe weinen sehen, berichtet die junge Unternehmerin, die in der Nacht des Kriegsbeginns vom Raketenbeschuss wach wurde, später selbst welche sah („fast lautlos und groß wie ein Strom-Gittermast“) und seither mit einer gewissen Ohnmacht verfolgt, wie sich die Kämpfe – Stadt für Stadt – ihrer Heimat und der Familie nähern.
Anfrage beim Kindergarten
Dies bestätigen auch Oma und Opa von Propps Schwägerin Julia in einem Videotelefonat, die sich zu alt für die Flucht fühlen. Ständig gebe es Luftalarm, seit am Sonntag der Flughafen der Stadt bombardiert worden ist. Allein acht Mal binnen zwölf Stunden seien sie in der Nacht in den Keller gelaufen.
Alle wollen gerne zurück, stellen sich aber vorerst auf ein längeres Verweilen in Erndtebrück ein und werden vorläufig in verschiedenen Privathaushalten aufgenommen. In den kommenden Tagen will sich Propp um die Aufnahme der Kinder in den Kindergarten kümmern. „Und Helena fragt mich schon den ganzen Tag, wo und wann sie hier arbeiten kann.“