Netphen/Erndtebrück. 2016 flüchtet Murtadha Jebur aus Bagdad. Auch mit Hilfe vieler Freunde findet er sein Glück – zwar nicht als Fußballprofi, aber in der Industrie

Allein in einem fremden Land, nur mit einer Sporttasche und ein wenig Geld ausgestattet, tausende Kilometer weit von der eigenen Heimat entfernt. Was für viele Jugendliche wie ein Albtraum klingt, war für Murtadha Kalaf Jebur im Juni 2016 Realität – und für den gebürtigen Iraker zu diesem Zeitpunkt dennoch alle Risiken wert.

Vier Jahre später kann der Wahl-Netphener über diese abenteuerliche Geschichte lachen. Er erzählt in passablem Deutsch von seiner aberwitzigen Reise durch Westeuropa, die ihn als Flüchtling über mehrere Auffanglager ins Siegerland und sportlich zu den Fußballern des TuS Erndtebrück führte.

Der mittlerweile 20-jährige Jebur hat den Absprung aus der irakischen Hauptstadt Bagdad, die noch immer von vielen Anschlägen heimgesucht wird, gemeistert. Die von langem Krieg gebeutelte Stadt im nahen Osten ist seit Juni 2016 nicht mehr seine Heimat – fernab von Familie und Freunden schlug sich „Murti“, wie er von seinem Kumpels und den Zuschauern am Pulverwald genannt wird, nahezu auf eigene Faust durch.

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„Angefangen hat alles mit einem Fußballturnier in Frankreich, an dem wir mit unserer Mannschaft aus Bagdad teilgenommen haben“, erinnert sich Jebur. Mit seinem Team rückt der damals 16-Jährige bis ins Halbfinale eines internationalen Turniers vor, doch der Sport rückt in diesen zwei Wochen mehr und mehr in den Hintergrund für ihn. „Ich habe dann die Entscheidung für mich getroffen, dass ich in Europa bleiben will. Am Tag der Abreise unserer Mannschaft bin ich einfach abgehauen.“

Gespaltene Gesellschaft und IS-Terror

Die Chance auf ein besseres Leben, weit weg von Anschlägen und Kriegszuständen faszinierte Jebur, der in seiner Heimat viel Leid, die Spaltung der Gesellschaft zwischen Schiiten und Sunniten sowie die Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat miterleben musste. Die gibt es in Bagdad übrigens heute noch. Sein Territorium hat der IS zwar eingebüßt, nun führt er jedoch einen Guerillakrieg mit zahlreichen Anschlägen.

„Der Fußball“, so hoffte Jebur, sollte in Europa eine Chance für ihn auftun. Doch der Weg war deutlich steiniger, als er es hätte sich ausmalen können. „Ich war jung und ganz alleine. Dann auch noch in Ländern, in denen ich noch nie vorher gewesen war, aber ich habe mich getraut. Und heute ist alles gut.“

Auf dem Fußballplatz zeichnet sich Murtadha Jebur durch Schnelligkeit und eine starke Technik aus. Für einen Stammplatz im Oberliga-Team fehlt noch Robustheit.
Auf dem Fußballplatz zeichnet sich Murtadha Jebur durch Schnelligkeit und eine starke Technik aus. Für einen Stammplatz im Oberliga-Team fehlt noch Robustheit. © Florian Runte

Nach einem Monat in Frankreich reist der junge Iraker mit dem Zug von Paris nach Frankfurt, wo er schließlich Asyl beantragt und in ein naheliegendes Flüchtlingscamp gebracht wird. Von wo aus er, wie tausende Andere, in verschiedene Lager umverteilt wurde. Für Jebur ging es schließlich ins Siegerland – nach Burbach.

Im Kreis sprach sich sein fußballerisches Talent schnell herum – und über einen Betreuer des Jugendamtes in Kredenbach heuerte „Murti“ bei den Sportfreunden Siegen an. „Das war toll für mich, ich konnte endlich in einer Mannschaft spielen, aber da gab es ein großes Problem“, berichtet Jebur.

Genauer: Seine Papiere. Durch seine ungenehmigte Einreise war es für den jungen Fußballer unmöglich, an einen gültigen Spielerpass zu gelangen, da auch seine Zukunft in Deutschland mehr als unsicher war. Eineinhalb Jahre war er deshalb zum Zusehen gezwungen, durfte nur unter der Woche mit der B-Jugend der Sportfreunde trainieren, ehe sich eine neue Möglichkeit für ihn auftat.

Hilfe von Ralph Schneider

Ralph Schneider, ehemaliger Trainer des VfL Bad Berleburg und zur damaligen Zeit Stützpunkttrainer in Siegen, nahm Jebur unter seine Fittiche, half ihm in allen Lebenslagen und organisierte dem Iraker eine Ausbildungsstätte bei der Netphener Firma Flender-Flux. Kurzum: Er änderte so das Leben von „Murti“ wohl für immer.

„Mittlerweile habe ich die Ausbildung als Maschinen- und Anlagenführer abgeschlossen, bin jetzt Facharbeiter und werde übernommen“, berichtet Jebur stolz. Auch ein dauerhaftes Bleiberecht nennt er dadurch nun sein Eigen.

Ralph Schneider, früherer A-Jugend-Trainer des TuS Erndtebrück, war wie ein Mentor für Murtadha Jebur.
Ralph Schneider, früherer A-Jugend-Trainer des TuS Erndtebrück, war wie ein Mentor für Murtadha Jebur. © Florian Runte

„Ich kann Ralph nicht genug danken dafür. Wir haben auch heute noch Kontakt. Er hat sehr viel für mich getan“, sagt Jebur, der sich gedanklich aber zunächst umstellen musste. Denn: „Nur über den Sport ging es bei mir eben nicht. Deshalb musste ich eine gute Arbeit finden, um mir hier ein Leben aufzubauen. So funktioniert das in Deutschland. Jetzt will ich hierbleiben.“

Seit seinem Ausbildungsstart spielt „Murti“ für den TuS Erndtebrück, wo er mit der A-Jugend unter Trainer Ralph Schneider in die Landesliga aufstieg. Nun macht er seine ersten Schritte im Seniorenbereich. Einen Einsatz im Oberligateam des TuS hat er auch schon absolviert, für Sonntag ist ein Einsatz bei der „Zweiten“ allerdings wahrscheinlicher als in der „Ersten“ – es fehlt noch ein Stück Robustheit.

Zu seinem Glück fehlt der Frohnatur aber eine andere Sache: Die Familie. „Das ist ein schwieriges Thema. Meine Eltern und meine neun Geschwister habe ich seit 2016 nicht mehr persönlich gesehen und ich vermisse sie natürlich unglaublich“, wird Jebur nachdenklich. Täglich jedoch steht er mit seinen Verwandten, die immer noch in Bagdad wohnen, in Kontakt via Skype.

„Nun hat man sich an diesen Zustand gewöhnt, aber am Anfang war es sehr hart für mich. Man braucht die Familie, um glücklich zu sein.“

Treffen mit der Familie geplant

2021 soll es endlich eine Zusammenkunft geben. Dann will er in seine Heimat reisen und seine Eltern und Geschwister besuchen – ohne Angst zu haben, nicht mehr zurück nach Deutschland zu kommen.

Denn sein Lebensmittelpunkt liegt für den 20-Jährigen mittlerweile in der Bundesrepublik. Die Sprache wird von Tag zu Tag besser, mit seinen Fußball- und Arbeitskollegen unternimmt er am Wochenende regelmäßig etwas. „Ein normales Leben“ hatte sich Murtadha Kalaf Jebur gewünscht, als er 2016 aus dem Teamhotel mitten in Frankreich abgehauen ist. Nun ist er nah dran an seinem Wunsch: Ein Leben in Sicherheit, in einem nicht mehr so fremden Land.