Hagen. Autor und Regisseur Thomas Pletzinger spricht beim Heimatbesuch in Hagen über Dinge, die bislang nicht bekannt wurden.
Der Mikado-Grill an der Marktbrücke, die mittlerweile Simson-Cohen-Brücke heißt, ist ja eine ortsbildprägende Hagener Ansicht. Ein Imbiss als Konstante. Und möglicherweise auch als Wiege. Denn es hält sich hartnäckig die Legende, dass hier eines der gegensätzlichsten Gerichte Deutschlands erfunden wurde, ein Hagener Klassiker: das Pommesbrötchen. Widersprüche ziehen sich an, Pommes und Brötchen, Ketchup und Mayo. „Besser geht es nicht“, sagt Thomas Pletzinger, bugsiert die Brille mit dem Zeigefinger die Nase hoch und piekt zielgerichtet in eine Fritte. Thomas Pletzinger war zuletzt auf Heimatbesuch, deshalb das Treffen beim Pommesbrötchen. Die Wahlheimat Prenzlauer Berg in Berlin tauschte er an Weihnachten gegen das Elternhaus auf dem Kuhlerkamp. Nachdem der Hagener Schriftsteller 2019 seine Dirk-Nowitzki-Biografie veröffentlichte, ist er nun auch Regisseur: Seine vierteilige Dokuserie „The Wagner Brothers - Zwei Brüder ein Traum“ ist aktuell das Werk, über das die sportinteressierte deutsche Öffentlichkeit spricht. Journalistische Nahbeobachtung auf einem in dieser Form nie zuvor gezeigten Niveau.
Niemals so gedrehte Doku
Am Weihnachtswochenende ging Pletzinger, wie so viele, auf ein Bierchen in die Stadt. Dort gab es, neben vielen Wiedersehensszenen, auch bierseliges Feedback: „Thomas Pletzinger, ne? Geile Doku!“ Ja, geile Doku, könnte man etwas unfachmännisch sagen. „Niemals so gedrehte Sport-Doku“ trifft es besser. Denn Pletzinger und sein Kollege Timo Modersohn begleiteten die Brüder Franz und Moritz Wagner, die gemeinsam bei den Orlando Magic in der NBA spielen, dafür zwei Jahre lang. Und zwar nicht, wie man es von den amerikanischen Reportage-Formaten kennt, die nur an der Oberfläche kratzen, wenn es um die NBA geht, die wirtschaftlich potenteste Sportliga der Welt.
Es gibt nicht viel Glattgebügeltes
Da gibt es viel Glattgebügeltes, Unpersönliches, Unreflektiertes, das eher auf Konformität mit dem Liga-Büro setzt als jene Fragen zu stellen, für die sich das Publikum wirklich interessiert. Kann man es selbst greifen, verarbeiten und erfassen, dass man einen Vertrag über fünf Jahre und 224 Millionen Dollar erhält, obwohl man doch gerade erst 23 Jahre geworden ist und eben noch in der Jugendbundesliga gespielt hat? So wie Franz Wagner. Kann man eine Liebesbeziehung führen, wenn man in der mindestens 82 Spiele langen Saison ständig zwischen Flugzeug, Arenen, Hotels und Presseauftritten gefangen ist? Welche Verantwortung trägt man für die Veränderung des Lebens der eigenen Eltern, die eben noch ihre Jungs in Berliner Sporthallen kutschierten, aber jetzt Axel und Beate sind, Eltern von Multimillionären und Weltstars, und unfreiwillig anders wahrgenommen.
Familie war ein wichtiger Rückhalt
Pletzinger und Modersohn sind überall dabei: Wenn die Wagner-Brüder in ihrem gemeinsamen Haus in Orlando auf ihrer Couch lagen. Wenn sie im Auto zum Training fahren. Wenn ihre Freunde aus Berlin zu Besuch kommen. Bei einsamen Abenden in Hotels in Indianapolis, im Trainingszentrum der Orlando Magic, im alten Kinderzimmer im Prenzlauer Berg, an ihrer Uni in Michigan. „Meine Familie hat mich in den wichtigen Phasen wenig gesehen“, sagt Pletzinger und beißt in sein Pommesbrötchen. „Wochenlang manchmal. Ohne diesen Rückhalt hätten wir diese Langzeitbeobachtung von Moritz und Franz gar nicht machen können.“ Ausdauer ist die Voraussetzung, aber dann kommt Glück hinzu: die Basketball-Weltmeisterschaft auf den Philippinen, die Deutschland sensationell gewinnt. Und der Erfolg der Orlando Magic, die in der erstmals seit langer Zeit wieder in die Playoffs einziehen.
„Meine Familie hat mich in den wichtigen Phasen wenig gesehen“, sagt Pletzinger und beißt in sein Pommesbrötchen. „Wochenlang manchmal. Ohne diesen Rückhalt hätten wir diese Langzeitbeobachtung von Moritz und Franz gar nicht machen können.“
Jede Menge tiefe Interviews
Pletzinger und das Drehteam sind immer dabei. Manila, Orlando, Cleveland, Chicago. „Life on the run“, wie Pletzinger es selbst beschreibt. Er taucht als Beobachter selbst in diesen Run ein. Innerhalb der zweijährigen Drehzeit sind hunderte Stunden Material zusammengekommen, von Kinderbildern bis zum WM-Finale. Dichte Beobachtung. Trainingslager in Kalifornien und die Olympischen Spiele in Paris, Rust Belt America und Okinawa, Japan. Harte Spielszenen, Behind-the-Scenes-Bilder, tiefe Interviews. „Im Schneideraum haben wir diese Bilderflut zu vier Folgen à 45 Minuten verdichtet - was angesichts der vielen Geschichten manchmal schwerfiel“, lacht Pletzinger.
Ein vertrautes Team
Die beiden Autoren beschreiben das selbst so: „Milieus und Strukturen, Probleme und Missstände. Die Perspektive zweier Weltbürger zwischen Europa und Amerika. Wir würden ein vertrautes Team sein, kein Schnickschnack, aber viel Zeit. Und die Wagners würden die Türen öffnen und so authentisch sein, wie man eben sein kann, wenn Kameras anwesend sind.“ Journalisten wissen, dass Nähe nicht gleichzeitig Authentizität bedeutet. Dass man Gefahr läuft, nicht zu hören, wie die Dinge wirklich sind. Wer vor einem Reporter steht, sagt Dinge nicht so, wie er sie seinem besten Freund erzählen würde. Wem man eine Kamera vors Gesicht hält, der verhält sich anders als sonst.
Ganz bewusste Reflektionen
Die Wagner-Brüder offenbar nicht. Zum einem sind sie Kamera-Situationen gewohnt. Zum anderen scheint es ihnen selbst ein spürbares Anliegen zu sein, über Themen zu sprechen, über die in diesem Business sonst niemand spricht: Druck und Versagensangst, Geld und Liebe, Ruhm und Einsamkeit. Pletzinger und Modersohn haben hier zwei junge Männer mit der Fähigkeit zur Selbstreflektion, mit sozialer Intelligenz und Weitsicht in den Fokus genommen. Wenn Franz und Moritz in der Doku sprechen, ist das sortiert, überlegt und meinungsstark. „Die beiden sind für ein derartiges Format ein Geschenk“, sagt Thomas Pletzinger.
Die Wagners selbst haben darüber berichtet, dass ihre Mitspieler in der NBA schon herausgefunden hätten, wie man in der ZDF-Mediathek Untertitel einstellt. Weil sie dieser neue Blick auf ihre Welt eben selbst interessiert. Und die Wagners haben, nachdem ihnen Pletzinger und Modersohn das Ergebnis vorab vorgelegt haben, nahezu nichts daran verändert. „Das finde ich bis heute bemerkenswert“, sagt Thomas Pletzinger. Zwei Brüder, die - wenn man die Doku richtig auf sich wirken lässt - verstanden haben, dass sie zwei Menschen von nur 450 sind, die in diesem Geldzirkus NBA Basketball spielen dürfen. Dass ihre Situation und ihr finanzieller Reichtum nicht normal, nicht selbstverständlich sind.
Alles ist vergänglich
Und dass das alles vergänglich ist und große Entbehrungen bedeutet. Dass man diesen Kern erkennen und bewahren muss. „Dieses Spiel erlaubt dir, ein Kind zu sein“, wie Moritz Wagner es in der Dokumentation ausdrückt. „Ein purer Mensch.“ Und auch das Publikum lernt, diese beiden Jungs nicht nur über ihren Reichtum und ihre Prominenz zu betrachten, sondern sie als den Umständen entsprechend „normale“ junge Männer zu sehen.
Wenn Thomas Pletzinger also in einer Hagener Pinte „Geile Doku“ zugerufen bekommt, dann stecken all diese vielschichtigen Zusammenhänge in diesen zwei plakativen Worten. „Ich finde es fantastisch, von Menschen persönlich zu erfahren, wenn ihnen unsere Arbeit etwas gegeben hat“, sagt er. „Dafür machen wir das ja. Und in Hagen kriegt man natürlich auch Rückmeldung von Menschen, die mit Basketball durchaus komplexe Gefühle verbinden.“ „The Wagner Brothers“ ist in der ZDF-Mediathek für alle abrufbar. In der Zwischenzeit erlitt Franz Wagner eine Bauchmuskelverletzung, die eine mehrwöchige Pause bedeutet. Sein Bruder Moritz hingegen hat sich das Kreuzband gerissen und wird für den Rest der laufenden Saison ausfallen.