Essen. Nach den Olympischen beginnen heute in Paris die Paralympischen Spiele. Sichtbarkeit, Akzeptanz und sportliches Niveau sind gestiegen.
Lise Petersen ist gerade 19 Jahre alt, und sie wird in Paris zum zweiten Mal bei Paralympischen Spielen (28. August bis 8. September) dabei sein. Vor knapp drei Wochen war die einarmige Speerwerferin vom TSV Bayer 04 Leverkusen schon mal gucken in der französischen Hauptstadt. Teamsponsor Adidas hatte eingeladen, um die Verlängerung des Ausrüster-Vertrags bis 2028 bekannt zu geben. Petersen stand zwischen Sprinterin Gina Lückenkemper und Beachvolleyballerin Laura Ludwig, beide mit olympischen Medaillen dekoriert, und fühlte sich offensichtlich pudelwohl. Sie sei „direkt total herzlich“ aufgenommen worden, erzählte Petersen. Einen Unterschied zwischen Team D Olympia und Team D Paralympics habe sie nicht gespürt, habe sie nie gespürt in ihrer Karriere.
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Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), kennt andere Zeiten. Gern erzählt der umtriebige Funktionär und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Oberbergischen die Geschichte von 1992: Damals fanden die Olympischen und Paralympischen Spiele in Barcelona statt und von den Paralympics sei im deutschen Fernsehen lediglich für eine halbe Stunde etwas in einer Gesundheitssendung zu sehen gewesen. In Paris hatte Beucher nun Postkarten dabei. Auf der einen Seite der Eiffelturm und auf der anderen die umfassenden Übertragungszeiten von ARD und ZDF während der Paralympischen Spiele, die an diesem Mittwoch eröffnet werden. Beucher verteilte die Karten großzügig. „Da geht einem das Herz auf“, sagte er: „In Riesenschritten sind wir dabei zu erreichen, was selbstverständlich ist.“
Rehm springt in Diamond League weiter als der Olympiasieger mit zwei Beinen
Markus Rehm, Klubkollege von Petersen und seit 2010 unangefochtener Dominator des Prothesen-Weitsprungs, verfolgt den Wandel und treibt ihn voran. Er arbeitet seit Jahren nicht nur an einem Neun-Meter-Sprung (sein Weltrekord steht bei 8,72 Metern), sondern auch am Image seines Sports. Und in der vergangenen Woche, an seinem 36. Geburtstag, feierte er einen wichtigen Etappensieg: Beim Diamond-League-Meeting in Lausanne gab es erstmals einen Wettbewerb für „Blade-Jumper“, wie Rehm seine Kollegen und sich selbst nennt. Rehm gewann mit 8,20 Metern vor Derek Loccident (8,05 Meter) aus den USA und reiste weiter nach Polen, wo er am Sonntag einen weiteren Diamond-League-Wettkampf gewann (8,03).
Der Termin war nicht ganz günstig so kurz vor dem Beginn der Paralympics. „Aber diese Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen“, sagte Rehm: „Die Diamond League ist die Königsklasse der Leichtathletik und ich finde, dass wir da auch hingehören.“ Immerhin sprang er in Lausanne weiter als Olympiasieger Miltiadis Tentoglou im Wettbewerb der Männer mit zwei Beinen, der Grieche flog auf 8,06 Meter. Und Rehm betonte: „Ich möchte nicht eingeladen werden, weil die Veranstalter ein bisschen Inklusion zelebrieren wollen, sondern weil meine Kollegen und ich eine coole Show in die Grube zaubern und das Publikum begeistern.“ Dieses Gefühl habe er in Lausanne bei seiner Diamond-League-Premiere gehabt. Und genauso will er auch seine vierten Paralympischen Spielen in Paris erleben.
Paralympics schon während Olympia in Paris sichtbar
Die Chancen stehen gut, denn die französischen Veranstalter zelebrieren die Olympischen und Paralympischen Spiele mehr denn je als Einheit. „Die Franzosen haben es geschafft, den Parasport schon bei Olympia stattfinden zu lassen, das treibt uns alle noch mehr an“, sagt Jörg Frischmann, Geschäftsführer der Parasport-Abteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen und Kugelstoß-Paralympicssieger von 1992. Bei der olympischen Eröffnungsfeier etwa waren Para-Sportlerinnen und -Sportler sehr prominent in den Höhepunkt der Zeremonie eingebunden, die Entzündung des Feuers.
Oder das Maskottchen: es ist kein Plüschtier, sondern ein roter Plüschhut mit Beinen. Sein Aussehen ist der phrygischen Mütze entlehnt, die in Frankreich seit der Revolution als Symbol der Freiheit und der Demokratie gilt. Das Pariser Maskottchen heißt also „Phryge“, und der Name wird fast immer im Plural benutzt, „Les Phryges“ im Französischen. Denn es gibt zum ersten Mal nicht zwei verschiedene Maskottchen für Olympia und Paralympics, sondern Phryge in zwei Varianten: einmal mit zwei Beinen und einmal mit einem Bein und einer Beinprothese.
Beide waren schon während der Olympischen Spiele auf Plakaten und in den Merchandise-Shops präsent. Genauso wie beide Paris-Logos, die identisch aufgebaut sind: Oben die Flamme im goldenen Kreis, darunter der Schriftzug Paris 2024 – und dann für Olympia die fünf Ringe und für die Paralympics drei farbige Bögen. Auf den schnellen Blick sind sie kaum zu unterscheiden. Viele große Sponsoren haben ihre Kampagnen für olympische und paralympische Athleten zusammengelegt, riesige Plakate mit Protagonisten beider Spiele hingen schon in den olympischen Tagen in Paris. „Warum auch nicht?“, fragt Rehm: „Wir zeigen tolle Leistungen, wir sind attraktiv.“
Mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz für paralympischen Sport
Ab heute geht die große Sport-Party an der Seine also einfach weiter. „Es wird ein bisschen anders, ein bisschen kleiner, noch familiärer – aber ganz sicher nicht schlechter“, sagt Stefan Kiefer, der Generalsekretär des DBS. Von den 143 deutschen Para-Sportlerinnen und -Sportlern starten 37 für Vereine in NRW, Petersen und Rehm sind Teil eines 20-köpfigen Bayer-Teams, 18 Starterinnen und Starter vom TSV Bayer 04 Leverkusen sind in Paris dabei und zwei vom RTHC Bayer Leverkusen. Damit präsentiert sich die Bayer-Stadt als Hochburg für den Spitzensport mit einer Körperbehinderung. Neben Rehm, der von der früheren Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius trainiert wird, ist auch der Leverkusener Schwimmer Taliso Engel klarer Anwärter auf einen Sieg: Der 22-Jährige mit einer Sehbehinderung will in Paris seinen Titel über 100 Meter Brust verteidigen.
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Jörg Frischmann freut vor allem, dass nicht nur Sichtbarkeit und Akzeptanz der Paralympischen Spiele so deutlich gestiegen sind, sondern auch das sportliche Niveau. In der Weltspitze hätten die Leistungen enorm angezogen, mit ein bisschen Hobbysport gelange man längst nicht mehr dorthin. Das mache die Nachwuchs-Rekrutierung schwieriger, da der Aufwand für paralympischen Spitzensport inzwischen genauso groß ist wie im olympischen Bereich. Aber Frischmann ist optimistisch: „Ich hoffe, dass die Paralympics uns in der Nachwuchsarbeit nochmal einen Schub geben, dass viele junge Leute mit einer Behinderung angestoßen werden, sich für Sport zu begeistern.“