Lille. Gegen Weltmeister Dänemark hat das Team von Alfred Gislason in Lille beim olympischen Finale keine Chance. Aber wie lange noch?
Wer über seine größten Albträume nur lachen kann, entkommt ihnen. Keine fünf Minuten waren nach dem bösen Erwachen im Finale der Olympischen Spiele vergangen, da standen die deutschen Handballer schon wieder grinsend zum Mannschaftsfoto zusammen. Kurz danach wurde auf dem Treppchen gefeixt, weil Renārs Uščins als einziger seine Team-D-Jacke vergessen hatte. Und dann wurde aus dem Albtraum der 26:39 (12:21)-Niederlage gegen den neuen Olympiasieger Dänemark ein wahrgewordener Traum.
„Wir sind nicht so arrogant gewesen, Gold holen zu wollen. Unser Ziel war eine Medaille, das haben wir erreicht“, sagte Torhüter Andreas Wolff. Julian Köster sprach zwar von der „größten Klatsche meiner Karriere“, seine Stimmung befinde sich aber im Aufwind. Das Bild nach Spielende sprach Bände.
Olympia: Deutsche Handballer sichern sich die Silbermedaille
Trainer Alfred Gislason hatte sich in diesem Moment freilich nicht aufs Bild geschlichen. Er steht ungern im Mittelpunkt, der gebührt „den Jungs“. Gegrinst hatte der Isländer dennoch. Schon vor Anpfiff saß der dreifache Vater und vierfache Opa tiefenentspannt auf seiner Trainerbank und sah genüsslich dabei zu, wie ebenjene Jungs unter dem Applaus vor 27.000 Zuschauern in Lille einliefen. Zum Hochgenuss entwickelten sich aus deutscher Sicht die folgenden 60 Spielminuten dann nicht.
Das sollte einfach nicht sein. Oder exakter formuliert: Es konnte gegen einen viel zu starken Kontrahenten nicht sein. Früh lag Deutschland mit 5:10 (13.) gegen den zuletzt dreimaligen Weltmeister und aktuellen Vize-Europameister zurück, kam gegen die schnelle Abwehr der Nordeuropäer kaum durch. Gislason reagierte mit einer Auszeit. Der Effekt: Fünf Minuten später stand es 6:14. Der ansonsten fast immer überragende Wolff hatte bis dahin zwei von 16 Würfen gehalten und wurde für den im bisherigen Turnier ebenfalls starken David Späth ausgetauscht, der Minuten später jedoch zurück auf die Bank musste. Seine Quote bis dahin: null von fünf. Am Ende parierte Wolff 5/35 Würfen (14 Prozent) und Späth 3/12 (25 Prozent).
Deutsche Torhüter kommen kaum an dänische Bälle heran
Doch selbst zwei Torhüter in Bestverfassung hätten im für Olympia umfunktionierten Fußballstadion Pierre-Mauroy nicht für Gold gereicht. Die Qualität der Dänen und der ihrer sensationellen Rückraumschützen Rasmus Lauge sowie Simon Pytlick war schlicht eine Klasse besser. Mathias Gidsel war sowieso nie zu kontrollieren, und für Siebenmeter kommt ein gewisser Mikkel Hansen ins Spiel. Mehr muss nicht gesagt werden. Es war ein Wahnsinn.
Der noch viel Größere war aber die Entwicklung der deutschen Mannschaft. Noch im Januar war sie bei der Europameisterschaft im eigenen Land immerhin Vierter geworden. Das Abschneiden war jedoch etwas glücklich, der Abstand zu den Spitzennationen Dänemark, Frankreich und Schweden gewaltig. „Dass wir so weit sind, mit so einem jungen Team, das hätte doch niemand gedacht“, sagte Gislason.
Cheftrainer Alfred Gislason beweist einmal mehr, dass Zweifel an ihm unberechtigt sind
Vielleicht hätte das auch von ihm niemand mehr so richtig gedacht. Seine Verdienste sind unbestritten, der Isländer gilt als einer der bedeutendsten Trainer überhaupt. Doch der Nimbus des Mannes aus Akureyri hat etwas gelitten, seit er im Februar 2020 die Nationalmannschaft übernahm, bis dato aber nichts gewonnen hatte. Das lag am wenigsten an ihm. Für die ständigen Umbrüche im Team konnte der 64-Jährige nichts, weil hier ein Routinier ausfiel, dort einer privat absagte, ein vermeintliches Talent erst gut genug erschien, sich dann aber doch als zu schwach entpuppte.
Gislason, ein Coach, der bis ins Detail vorbereitet in jedes Spiel geht, musste auf einmal zum Improvisationskünstler werden. Es gelang ihm. Lockerer als früher im Umgang, mit leicht nach hinten durchgedrücktem Rücken und verschränkten Armen an der Seitenlinie. Die Chemie stimmte.
Die Mannschaft ist jung, die Aussichten in den kommenden Jahren sind gut
So wurde aus Köster (24) der wichtige Mann für den Rückraum; aus Juri Knorr (24) der Spielmacher der Gegenwart und Zukunft; aus Uščins (22) für immer der Matchwinner gegen Frankreich; aus Marko Grgić (20) der vielversprechende Turnierdebütant. Aus ihnen allen: Silbermedaillengewinner bei Olympischen Spielen.
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Da geht mehr. Keine Mannschaft war jünger. Die U-21-Weltmeister aus dem vergangenen Jahr rücken erst noch auf. Olympia-Silber 2004 und 2024, dem WM-Titel 2007 und dem EM-Triumph 2016 könnten bald nächste Errungenschaften folgen. Den Charakter dafür besitzt der Kern des Teams. Ansonsten wäre der irre Comebacksieg gegen Europameister Frankreich ebenso wenig drin gewesen wie das Standhalten im Halbfinale gegen favorisierte Spanier. Träumen darf erlaubt sein.