Paris. Katie Ledecky ist die beste Freistilschwimmerin der Gegenwart und einen Sieg davon entfernt, einen uralten Olympiarekord einzustellen.
Die Euphorie verschleiert manchmal den Blick für die Realität. Als Simone Biles die letzte Übung ihres Mehrkampfes am Boden absolvierte, schwelgte der Kommentator bei Eurosport in höchsten Sphären, adelte die Turnerin als diejenige, die den uralten Olympiarekord der Frauen von Larissa Latynina eingestellt habe. Fabian Hambüchen als Experte widersprach dem nicht, nur war es erst die sechste Goldmedaille von Biles, nicht die neunte.
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Dass Latynina (UdSSR), die zwischen 1956 und 1964 ebenfalls im Turnen neun Olympiasiege feierte, diese Marke noch lange allein behält, ist allerdings unwahrscheinlich. Schon kurz nach Biles war Katie Ledecky nah dran am neunten Gold. Doch lediglich als Zweite schlug die US-Staffel über 4x200 Meter Freistil an. Damit komplettierte die Schwimmerin in Paris zunächst ihren Medaillensatz.
Ledecky gewann seit 2012 alle olympischen Rennen über 800 Meter
Am Samstag allerdings dürfte sie ihren Stellenwert in der olympischen Historie noch einmal herausheben. Über 800 Meter Freistil geht die 27-Jährige als Favoritin an den Start, um ihr neuntes Gold zu erobern, um eine außergewöhnliche Karriere zu krönen. „Ich habe das Gefühl, dass es mir von Jahr zu Jahr mehr Spaß macht, und ich bin stolz auf diese Konstanz“, sagt Ledecky, die 2012 in London als 15-Jährige ihren ersten Triumph über die 800 Meter feierte.
Nun hat sie als erste Frau die Chance, vier Olympiasiege in Folge in ein und derselben Disziplin zu feiern. Der einzige andere Schwimmer, der dies geschafft hat, ist Michael Phelps, der zwischen 2004 und 2016 über die 200 Meter Lagen gewann. Zu Phelps, dem olympischen Star schlechthin mit seinen 23 Goldmedaillen, wird Ledecky oft als weibliches Pendant betrachtet. Mittlerweile liegt sie bei zwölf Olympiamedaillen, sie verbuchte 21 Weltmeistertitel.
„Es gab so viele Höhen und Tiefen im Training in diesem Jahr, aber alle meine Trainer leisten wirklich gute Arbeit, um mich stabil und auf dem richtigen Weg zu halten“
Keine Frau prägte das Schwimmen im vergangenen Jahrzehnt so wie Ledecky. Sie genießt es, die Grenzen ihrer Fähigkeiten auszuloten, und lieferte in Paris, wo sie über 400 Meter Freistil Dritte wurde, über 1500 Meter ein Rennen ab, das kaum Zweifel lässt über das, was noch zu erwarten ist. Von der ersten bis zu letzten Bahn dominierte sie, schwamm unbeirrbar ihr hohes Tempo und ließ alle anderen weit hinter sich.
Den Auftritt in Paris nimmt Ledecky nicht als selbstverständlich hin. „Es gab so viele Höhen und Tiefen im Training in diesem Jahr, aber alle meine Trainer leisten wirklich gute Arbeit, um mich stabil und auf dem richtigen Weg zu halten. Sie haben mich daran erinnert, dem Prozess zu vertrauen“, sagt die Amerikanerin, die schließlich bei den US-Trails im Juni als erste Frau vier Einzeltitel gewann und den Kurs für erfolgreiche Spiele setzte.
Von so viel Gold hat die Schwimmerin nie geträumt
Die Dimension ihrer Auftritte will sie dabei nicht zu einem Thema werden lassen. „Jede Medaille bedeutet mir viel. Ich versuche aber, mich nicht zu sehr auf die Geschichte einzulassen oder die Größe der Dinge“, sagt Ledecky. Sie erinnert sich lieber daran, wie sie als kleines Kind aufgeschaut hat zu anderen Athleten, die sie inspiriert haben. „Ich hoffe, irgendwo sitzt ein kleines Mädchen, für die ich dasselbe sein kann“, erzählt der Schwimm-Star.
Ledecky selbst dachte nie über eine große Karriere nach, als die anfing mit ihrem Sport. „Als ich es nach London geschafft hatte, hätte ich nie gedacht, dass ich dort gewinnen würde. Davon habe ich als kleines Kind nicht geträumt“, so die aus Washington D.C. stammende Athletin, die erst im Anschluss daran ihre große Passion entwickelte: „Danach wollte ich beweisen, dass ich kein One-Hit-Wonder bin.“
Los Angeles 2028 als traumhafte Aussicht für Ledecky
Eindrucksvoll ist ihr das gelungen, sie entwickelte sich zur besten Freistilschwimmerin der Gegenwart. Wobei sie über die mittleren Distanzen nicht mehr so dominant ist, aber auf den langen Strecken weiterhin die unumschränkte Herrscherin. Als sechsfache Weltmeisterin über die 800 Meter geht sie an den Start, wo auch Isabel Gose (Magdeburg) nach Bronze über 1500 Meter wieder auf das Podest will. Im Vorlauf schwamm Gose die fünftbeste Zeit, deutlich hinter der Schnellsten: Ledecky.
Ihre Bilanz muss nach den Spielen von Paris keineswegs festgeschrieben sein. Die Aussicht auf Los Angeles 2028 fasziniert Ledecky. „Angesichts der Art der Unterstützung, die die französischen Athleten hier erfahren, glaube ich, dass alle US-Athleten darüber nachdenken, wie cool das in Los Angeles sein könnte, wenn sie ihr Heimpublikum haben“, sagt sie: „Es wäre also großartig, dort anzutreten.“ Vielleicht als olympische Rekordhalterin. Tatsächlich könnte auch Simone Biles dieses Prädikat in Paris erlangen, wenn sie all ihre Gerätefinals gewinnt.