Essen. Ex-Schalke-Trainer Manuel Baum kommentiert Spiele der Fußball-EM. Im Gespräch präsentiert er einige seiner Erkenntnisse der Vorrunde.

Hauptberuflich leitet Manuel Baum das Nachwuchsleistungszentrum von RB Leipzig. In seinem Zweitjob aber kommentiert der 44-Jährige Spiele der Fußball-EM für Magenta TV. Messbar ist vieles: Die Anzahl der Tore in der Vorrunde (81) ist nicht hoch, seit der EM 1996 war der Schnitt pro Spiel (2,25) nur einmal schlechter (2016 - 2,1). Viele Weitschüsse waren dabei, einige Eigentore. Baum interessiert sich nicht nur für die Zahlen, sondern als Taktik-Experte auch für die Gründe, warum Favoriten überzeugen - oder eben nicht.

Mit der deutschen Mannschaft und seinem Trainerkollegen Julian Nagelsmann zeigte sich Baum, der in der Bundesliga den FC Augsburg und Schalke 04 trainiert hatte, im Gespräch mit dieser Zeitung sehr zufrieden: „In den ersten zwei Spielen hat es Julian Nagelsmann geschafft, die individuelle Qualität in eine taktische Ausrichtung zu bekommen. Wenn man sich anschaut, wo wir vor einem Jahr waren und wo wir jetzt stehen, ist es realistisch, dass wir Europameister werden.“

Baum bezeichnet England als „Konjunktiv-Mannschaft“

Doch auch zwei andere Favoriten hat er genau analysiert - warum Spanien zum Topfavoriten wurde, und warum England bisher nicht überzeugen konnte. „Der Fußball der spanischen Nationalmannschaft ist nicht mehr komplett spanisch. Wir reden aktuell eher über die spanischen Außenspieler als über das Zentrum. Spanien hat, man glaubt es kaum, Kontertore erzielt. Die Spanier spielen zielstrebiger, ohne die spanische Identität komplett aufzugeben“, sagte Baum.

Heiße Diskussionen: Harry Kane (v. l.), Jude Bellingham und Marc Guéhi diskutieren nach dem EM-Spiel Englands gegen Slowenien.
Heiße Diskussionen: Harry Kane (v. l.), Jude Bellingham und Marc Guéhi diskutieren nach dem EM-Spiel Englands gegen Slowenien. © Sebastian El-Saqqa / firo Sportphoto | Sebastian El-Saqqa

Im Gegensatz zu Spanien und Deutschland würde es den Three Lions aber nicht gelingen, ihre Qualitäten abzurufen. „Spanien und Deutschland schaffen es, die Individualisten einzubauen. Die Engländer sind eine Konjunktiv-Mannschaft. Ich sage immer: Qualität ist Potenzial minus Störvariablen. Was die sind, weiß ich nicht, ich kenne das Innenleben der Mannschaft nicht. Stand jetzt würde jeder sagen: England scheidet im Achtelfinale aus. Gelingt es ihnen aber, die Störvariablen zu reduzieren, können sie bis ins Finale kommen.“ Was Baum damit meint: Niemand weiß exakt, wie die Vorgaben von Trainer Gareth Southgate aussehen, welche Spieler nach einer langen Saison müde sind, ob ein gutes Klima in der Kabine herrscht oder nicht.

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Dass so viele Tore aus der Entfernung gefallen sind, ist ein überraschender EM-Trend - im Vereinsfußball war die Zahl der Distanzschuss-Tore rückläufig. Das hing vor allem mit der Statistik der Expected Goals (xGoals) zusammen, die von Spieltag zu Spieltag beweist, dass es wahrscheinlicher ist, ein Tor aus dem Strafraum heraus zu erzielen als es aus der Entfernung zu versuchen. Baum nennt drei Gründe für EM-Weitschüsse: „Erstens: Das Spielgerät gibt es her, fester und flattriger zu schießen. Zweitens: Die Spieler können sich die Schusstechnik durch viele Handyvideos inzwischen autodidakt aneignen. Drittens: Da viele Mannschaften ihre Verteidiger im Strafraum parken, ist es in manchen Fällen nur möglich, aus der Distanz zum Abschluss zu kommen.“

„Der Video-Assistent wird gut eingesetzt.“

Manuel Baum

Mit der prägnantesten Regel-Änderung der EM kann Baum gut leben. Es geht darum, dass auf dem Feld nur noch der Kapitän nach umstrittenen Entscheidungen zum Schiedsrichter gehen darf, da sonst eine Gelbe Karte droht. Die Teams halten sich daran. „Diese Regel finde ich super“, sagte Baum. Den während einer Bundesliga-Saison oft kontrovers diskutierten Video-Assistenten sieht er bei der EM „gut eingesetzt“.

Nur bei einer Statistik ist es Baum ratlos. Warum gab es so viele Eigentore? Baum musste schmunzeln. „Dafür habe ich keine Erklärung.“