Rom. Gesa Krause gewinnt nach einem Protest-Chaos EM-Silber, der Titel ging an die Französin Finot. Nun schaut die junge Mutter auf Olympia.
Es war kurz vor Mitternacht, als Alice Finot hinter einem Tor im Außenbereich des Olympiastadions von Rom verschwand. Um den Hals der französischen Leichtathletin hing keine Goldmedaille, dafür hielt sie ein Handy ans Ohr. Ihr Blick wirkte angespannt, ihr Schritt war rasch. Es war ein flüchtiger Moment, wie die 33-Jährige da dem großen Wirbel entschlüpfte. Doch er gehörte zu dem großen Drama, dem wirren Hickhack, das sich Sonntagnacht bei der Leichtathletik-EM in Italiens Hauptstadt ereignet hatte.
Denn die Siegerehrung, zu der die Französin als neue Europameisterin über 3000 Meter Hindernis hätte gehen sollen, wurde verschoben. Das Problem: Es war unklar, ob Finot wirklich die Siegerin war. Zwar hatte sie in einem famosen Schlussspurt auch Gesa Krause abgeschüttelt und auf Platz zwei verdrängt, doch die kritische Situation hatte es bereits zuvor gegeben. Nach einem Überqueren des Wassergrabens hatte Finot mehrmals die Bahnmarkierung leicht betreten. Laut Regelwerk ein Verstoß – plötzlich stand ein dickes „DQ“ für disqualifiziert hinter ihrem Namen. Und damit war auf einmal Gesa Krause Europameisterin. Doch auch diese Entscheidung wurde spät in der Nacht wieder einkassiert.
DLV hatte keinen Protest eingelegt
Silber, Gold, doch wieder Silber – für Gesa Krause war es eine „emotionale Achterbahn“. Mit dem Ausgang war die 31-Jährige aber einverstanden. „Ich bin froh, dass das Ergebnis jetzt so steht und das Sportliche Vorrang hat“, sagte die Europameisterin von 2016 und 2018: „Ich bin als Zweite ins Ziel gekommen, Alice Finot hat verdient Gold gewonnen.“ Einen erkennbaren Vorteil hatte sie durch das Übertreten nicht gehabt. „Nein“, sagte Krause einen Tag später entschieden – unter diesen Umständen hätte sie Gold nicht gewollt. „Ich hätte mich nie als Siegerin des Rennens gefühlt. Meine Hochachtung vor Alice Finot, vor ihrem Endspurt und wie sie das Rennen angegangen ist. Ich bin glücklich mit meiner Silbermedaille.“
Doch wie war es überhaupt zu dem Chaos gekommen? Es hieß, der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) hätte Protest eingelegt. Das war falsch, es ging lediglich um Videoeinsicht, wie Jörg Bügner, DLV-Sportvorstand Leistungssport, am Montag erklärte. Zur Überprüfung kam es nicht, da zwischenzeitlich ein Schiedsrichter die Sachlage geprüft und die Französin aufgrund mehrmaligen Betretens der Innenbahn disqualifiziert hatte. Trotzdem wurde später dem französischem Einspruch stattgegeben. Gesa Krause hatte in den Katakomben des Stadions zunächst gar nichts davon mitbekommen. Das Hin und Her hätte sie allen Beteiligten gerne erspart. „Es gibt sicherlich Situationen, in denen Protest gerechtfertigt ist, aber in unserem Fall war es richtig, so zu entscheiden, wie es jetzt ist.“
Krauses großes Ziel bleibt das Olympia-Podium
Auch sie musste die Situation erst einmal verarbeiten. Erst um 3 Uhr nachts war sie im Hotel. „Dann brauchte ich erstmal eineinhalb Stunden für mich, um wieder in den Modus der Freude zurückzukehren. So eine Situation gibt einem schon einen Dämpfer.“ Dabei ist die Silbermedaille für Gesa Krause eine bärenstarke Leistung. Rund ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter Lola hat sich die WM-Dritte von 2017 zurück in die Weltspitze gekämpft. Die Olympianorm hatte sie schon in ihrem ersten Rennen vor ein paar Wochen abgehakt. Dass sie in Rom nicht die Erste im Ziel war, zwickte nur kurz: „Natürlich ist oben stehen immer schöner, aber mein Ziel war eine Medaille.“ Das Pensum, das sie in diesem Jahr zwischen Mutter- und Leistungssportlerin-Sein „abgewuppt“ habe, sei enorm gewesen.
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Doch da ist eben dieses eine große Ziel, das sie stets bei sich trägt. Die Olympischen Ringe baumeln ihr als Kette um den Hals – in Paris will sie diesen Sommer noch einmal auf der ganz großen Bühne angreifen. „Der Traum vom Podium ist noch da.“ Sagt sie und weiß: „Es gibt noch viel, woran ich arbeiten muss. Ein Olympiafinale ist noch etwas ganz anderes.“
Lückenkemper noch mit der Staffel gefordert
Ein solches überhaupt einmal im Einzel zu erreichen – davon träumt auch Gina Lückenkemper. Die 27-jährige Sprinterin hat alles auf die Spiele ausgerichtet, in Rom verpasste sie als Fünfte in 11,07 Sekunden über 100 Meter die Titelverteidigung. Gold ging an die Britin Dina Asher-Smith (10,99). Die Soesterin Lückenkemper, die für den SCC Berlin antritt, freue sich aber zu wissen, „dass ich selbst mit einem nicht so guten Rennen eine 11,07 rennen kann. Das lässt auf jeden Fall auf mehr hoffen.“
Während Lückenkemper noch in der Staffel – ebenfalls als Titelverteidigerin – antritt, geht es für Gesa Krause direkt weiter ins Höhentrainingslager. Anders als in Rom wird Tochter Lola dort wieder mitkommen. „Bis Olympia wird sie jetzt immer bei mir sein“, sagt Gesa Krause und lächelt. Es ist ein schöneres Chaos, das nun auf sie wartet.