Rom/Essen. Sprinterin Gina Lückenkemper und Zehnkämpfer Niklas Kaul wurden 2022 Europameister. Machen sie bei der EM in Rom Hoffnung für Olympia?
Gina Lückenkemper bleibt einfach Gina Lückenkemper. So ernsthaft die deutsche Topsprinterin ihren Sport betreibt, für sie gilt auch: Ohne Spaß kein Vergnügen. Nach einer Trainingseinheit auf einem Nebenplatz des Stadio Olimpico in Rom lässt sie sich eine kleine Flachserei mit den Kollegen nicht nehmen. Mit guter Laune gewinnt es sich eben leichter.
Gina Lückenkemper ist zu einer besonderen Mission in Italiens Hauptstadt gereist. Sie ist bei der Leichtathletik-Europameisterschaft im Sprint über 100 Meter am Sonntag (22.53 Uhr/ARD) Titelverteidigerin. Wegen einer magischen Nacht vor zwei Jahren.
Es gibt Daten, die vergisst man einfach nicht. Der 16. August wird für die 27-Jährige genauso wie für Niklas Kaul dazu gehören. An jenem Abend versetzte erst der Zehnkämpfer und kurz darauf die Sprinterin das Münchener Olympiastadion bei der EM in Ekstase. Ohrenbetäubend war der Lärm, als Kaul zu Europas König der Athleten aufstieg, und sich anschließend Lückenkemper in einem spektakulären Finish samt Sturz hinter der Ziellinie zur kontinentalen Sprintkönigin krönte. „Die deutsche Leichtathletik lebt“, sagte Kaul damals.
Deutsche Leichtathleten müssen Wiedergutmachung leisten – schon wieder
Am Ende der Heim-EM sollte Deutschland mit 16 gewonnenen Medaillen – sieben davon Gold – den Medaillenspiegel anführen. Es war die gefühlte Wiedergutmachung für ein enttäuschendes WM-Ergebnis mit nur einmal Gold und einmal Bronze wenige Monate zuvor.
Die Vorzeichen sind diesmal ähnlich. Noch schlechter als bei der WM 2022 in Eugene/USA lief es für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) vergangenes Jahr bei den Titelkämpfen in Ungarns Hauptstadt Budapest. Erstmals ging das deutsche Team komplett leer aus. Ein Desaster. Doch können die Helden von München es noch einmal richten? Gelingt es ihnen, vor den Olympischen Spielen in Paris (24. Juli bis 11. August) noch einmal Euphorie für die deutsche Leichtathletik zu entfachen? Schließlich lesen sich die Medaillenprognosen für Paris wenig zuversichtlich. Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo hat Goldformat, Zehnkämpfer Leo Neugebauer wohl auch – der aber ist bei der EM in Rom nicht dabei.
TV-Experte Frank Busemann rechnet mit Medaillen
„Das wird gut, eine krasse Generalprobe auf den Weg zu Olympia“, sagte TV-Experte Frank Busemann mit Blick auf die EM. Der ehemalige Zehnkämpfer aus Dortmund geht „von der einen oder anderen Medaille in Disziplinen aus, in denen man in Paris nicht mal in den Endlauf kommt“.
Gina Lückenkemper, die von einem olympischen Finale träumt, präsentiert sich vor den Titelkämpfen am Ufer des Tibers nicht nur gut gelaunt, sondern auch fit. „Ich habe wahnsinnig gut trainiert und freue mich“, sagte die Athletin des SCC Berlin am Donnerstag. In ihrer internationalen Trainingsgruppe um Weltmeister Noah Lyles (USA) hat sie mit Coach Lance Brauman in Florida den ganzen Winter über an ihrer Form gefeilt. Die EM „nehme sie nicht auf die leichte Schulter“.
Gina Lückenkemper freut sich auf packende Rennen
Der Frauensprint in Europa habe sich noch einmal weiterentwickelt. „Wir dürfen uns auf packende Rennen freuen“, sagte die Soesterin, die in Bamberg lebt, und ergänzte: „Wir rennen im Olympiastadion – und Olympiastadien liegen mir.“ 2018 war in Berlin mit EM-Silber ihr Stern am Leichtathletik-Himmel aufgegangen, in München folgte dann Gold – im Einzel und mit der Staffel. Sie und Niklas Kaul (USC Mainz) wurden anschließend zu Deutschlands Sportlern des Jahres 2022 gewählt.
Wie Lückenkemper ist auch der 26 Jahre alte Weltmeister von 2019 mit einer Wildcard als Titelverteidiger bei der EM in Rom dabei und für Busemann (49) „erneuter Favorit“. Kaul selbst, der am Montag und Dienstag gefordert ist, schwärmte zuletzt von München: „Wenn ich mich an die Europameisterschaft erinnere, bekomme ich Gänsehaut.“ Busemann, selbst Olympia-Zweiter 1996, glaubt: „Kauls Fokus wird trotz aller Begeisterung eher auf den Olympischen Spielen liegen, was ihn mit den anderen Medaillenanwärtern eint: Sie sind schon auf einem Topniveau, aber noch nicht ausgereizt.“
Leo Neugebauer bricht den deutschen Rekord
Gilt das auch für Leo Neugebauer, der gar nicht nach Rom gereist ist? Der 23-Jährige, der in den USA trainiert und dem im vergangenen Jahr bei der WM in Budapest – er wurde bei seiner Premiere Fünfter – die Herzen zuflogen, sorgte bei den US-Collegemeisterschaften erneut für Aufsehen. Das Wall Street Journal schrieb über den Athleten der Universität Texas jüngst: Der beste Leichtathlet der USA ist ein riesiger Deutscher. Neugebauer misst knapp zwei Meter. In Eugene verteidigte er nun in beeindruckender Manier seinen Titel und brach dabei mehrere Rekorde – unter anderem seine eigene deutsche Bestmarke.
Mit 8961 verpasste er die magische 9000-Punkte-Marke nur knapp. „Es ist unglaublich. Ich kann gar nicht beschreiben, wie es sich anfühlt. Ich kann meine Gedanken nicht in Worte fassen“, sagte der Athlet des VfB Stuttgart. Mit Blick auf die Olympischen Spiele sagte er: „Ich fühle mich großartig.“ Vielleicht wird es dann Zeit für neue Helden.