Madrid. Im Champions-League-Finale guckt die Welt auch auf Vinícius Jr. Der Ausnahmestürmer steht zwischen Rassismus, Provokationen und Weltklasse.
Im Halbfinale gegen den FC Bayern gab es wieder so eine Szene. Kurz vor Schluss bekam Vinícius Júnior den Ball von Joshua Kimmich für einen Einwurf gereicht. Doch der brasilianische Starstürmer von Real Madrid zog absichtlich die Hand zurück, so dass die Kugel auf den Boden fiel. Kimmich versuchte es noch einmal und drückte sie ihm sachte an den Körper. Da rollte Vinícius den Ball im Stile eines Bowling-Spielers wieder weg und rief Kimmich noch ein paar Freundlichkeiten hinterher.
Auf solche Einlagen müssen sich auch die Profis von Borussia Dortmund im Champions-League-Finale am Samstag (21 Uhr/ZDF und DAZN) gefasst machen. Und es sind genau diese Mätzchen, die auch wohlmeinende Beobachter manchmal an dem 23-jährigen Angreifer verzweifeln lassen. „Einen Exzess an Ausdruck, den er besser korrigieren sollte“, attestiert ihm Jorge Valdano, vormals Spieler, Trainer und Manager bei Real.
Vinícius: Zwischen Kritik und Weltklasse
Predrag Mijatovic, der den Rekord-Champions-League-Sieger mit seinem Siegtor 1998 von einer 32-jährigen Durststrecke erlöste, wurde noch deutlicher, nachdem Vinícius im Achtelfinale gegen Leipzig für einen sinnlosen Stoß gegen Willi Orban nur durch einen nachsichtigen Schiedsrichter vom fälligen Platzverweis bewahrt wurde. Es brauche einen „radikalen Wandel“ im Verhalten von Vinícius: „Alles Gute seines Fußballs wird er sonst auf andere Weise vermasseln“.
Dabei ist dieses Gute ja sehr viel Gutes. In das Endspiel gegen Borussia Dortmund geht der Brasilianer nicht nur als einziger Spieler, der schon mal in einem Champions-League-Finale getroffen hat – 2022 zum 1:0-Sieg gegen Liverpool. Sondern auch nach brillanten Darbietungen gegen die Bayern. Auswärts erzielte er zwei Tore, zuhause spielte er die Sterne vom Himmel „wie man es nicht oft zu sehen bekommt“ (Trainer Carlo Ancelotti).
„Nicht zu verteidigen“ und den „besten Spieler der Welt“ nennt ihn Teamkollege Jude Bellingham. Tatsächlich gibt es derzeit wohl keinen anderen Angreifer, auch nicht den wohl künftigen Real-Mitstreiter Kylian Mbappé, der so zuverlässig auch in Spitzenspielen den Unterschied macht wie Vinícius.
Vinícius: Von der Straße zum Königlichen
Wer hätte es geahnt, als er in einem armen Vorort von Rio de Janeiro mit sieben Familienmitgliedern in einem Zimmer schlief? Später ging es die Akademie des Großklubs Flamengo, schon mit 16 wurde er für 45 Millionen Euro nach Madrid transferiert, mit 18 schlug er schließlich dort auf.
Seine Dribbelkünste waren dann auch in Spanien sofort zu sehen. Aber bei seinen Entscheidungen auf dem Platz und besonders vor dem Tor gab er zunächst eine traurige Figur ab. Auf dem Tiefpunkt raunte Reals damaliger Angriffsleader Karim Benzema im Herbst 2020 mal dem Mitspieler Ferland Mendy zu: „Pass’ nicht zu dem, der spielt gegen uns“.
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Doch seither hat Vinícius eine spektakuläre Metamorphose durchlaufen. Wo er in seinen ersten drei Real-Saisons nur drei, fünf und sechs Tore erzielte, hat er seither 22, 23 und 23 Mal getroffen. In zwei Spielzeiten kamen dabei auch über 20 Torvorlagen hinzu. Aus einem kopflosen Zirkusspieler ist ein kompletter Angreifer geworden, der Technik, Tempo und Kreativität in bester brasilianischer Manier vereint, aber auch immer offen für die Korrekturen seines Trainers ist und in Extrasessions mit privaten Analysten und Fitnessberatern an allen Aspekten des Spiels arbeitete.
Heute weiß Vinícius genau, wann er welchen Lauf zu starten, welchen Pass zu spielen und welchen Abschluss zu wählen hat. Unterschiedslos kann er auf dem angestammten linken Flügel wie als falsche Neun in der Mitte agieren. Fußballerisch hat er kaum noch etwas zu verbessern.
Vor CL-Finale gegen BVB: Vinícius weiß, dass er „kein Heiliger“ ist
Nur über den Rest streiten sich bei ihm die Geister. Vinícius zeigt sich einerseits als mutiger Vorkämpfer gegen Rassismus, nachdem er in Spaniens Stadien wiederholt von den Tribünen diskriminiert wurde. Damit hat er nötige Sensibilität geweckt, bis hin zu dem Punkt, an dem ihm kürzlich ein Freundschaftsspiel zwischen Spanien und Brasilien gewidmet wurde.
Andererseits provoziert er seinerseits die Gegner derart, dass ihm einer wie Mallorcas Kapitän Antonio Raíllo mal unterstellte, den „Rassismus-Joker“ als Freibrief bei den Schiedsrichtern auszuspielen. „Alle treten nach mir ... aber es stimmt schon, dass ich auch kein Heiliger bin“, räumte Vinícius selbst kürzlich ein.
Dafür ist er bald vielleicht ein Weltfußballer des Jahres. Die Buchmacher führen ihn vor Bellingham und Toni Kroos als Favoriten für die Auszeichnung mit dem Goldenen Ball, und in Madrid wurde über diesen Preis in den letzten Tagen mehr gesprochen als über Borussia Dortmund. „Ich unterschreibe, das Finale und danach die Copa América zu gewinnen, und dass der Goldene Ball an Toni geht, weil der ja aufhört“, sagte Vinícius zum Thema. Er kann also durchaus auch großzügig sein.