Essen. Deutschland spielt bei der Handball-EM 2024 Sonntag gegen Nordmazedonien. Daniel Stephan erinnert sich an ein skandalöses Klubspiel.
Hin und wieder kommen sie, die Gedanken an den 30. März 1996. An die manipulierte Spieluhr, an die Drohgebärden und an Zuschauer, die die Auswechselbank bespuckten. Kurz vor dem EM-Spiel der deutschen Handballer gegen Nordmazedonien sagt der frühere Nationalspieler Daniel Stephan, habe er die Bilder vom Spiel gegen den nordmazedonischen Klub Pelister Bitola wieder deutlicher vor seinem geistigen Auge. In der Karriere des ehemaligen Welthandballers markiert die Europapokal-Partie mit dem TBV Lemgo auf den ersten Blick einen Meilenstein auf dem Weg zum Triumph im EHF-Pokal. Gleichzeitig ist dieses Halbfinal-Rückspiel ein Ereignis, das in der Historie der beiden Nationen ein unrühmliches ist und das die Vorrunden-Begegnung am Sonntag (20.30 Uhr/ZDF) auch fast 28 Jahre danach besonders macht.
Ex-Nationalspieler Daniel Stephan sieht Deutschland im Vorteil
Fünfmal sind die beiden Nationalmannschaften schon aufeinander getroffen, viermal gewann das deutsche Team, einmal gab es ein Unentschieden. Bei dem Heim-Turnier soll natürlich der nächste Sieg her - auch, um sich in Berlin in eine gute Ausgangsposition für das finale Gruppenspiel gegen Frankreich zu bringen. „Ich habe den Eindruck, dass die Mannschaft in den vergangenen Jahren schwächer geworden ist“, urteilt Stephan über die Nordmazedonier. Nach dem Karriereende von Kiril Lazarov, jetzt Nationaltrainer, fehle es an einem Ausnahmespieler. Stephan: „Das ist ein Team, das über den Mannschaftsgeist kommt. Die Deutschen sind am Sonntag in der Favoritenrolle.“
Doch wenn Daniel Stephan an nordmazedonischen Handball denkt, dann denkt der 50-Jährige nicht nur an Länderspiele. Dann wandern seine Erinnerungen schnell zurück zu jenem Tag im März 1996. Auf die Frage , ob das Spiel in Bitola das schlimmste gewesen sei, was er in seiner Handball-Laufbahn erlebt habe, antwortet Stephan, 1973 in Duisburg-Rheinhausen geboren, im Gespräch mit dieser Redaktion ohne zu zögern mit „Ja“. Und auch seine damaligen Mannschaftskollegen sowie die, die damals dabei waren, sprechen noch heute über die „Hölle von Bitola“.
Deutschland - Nordmazedonien: Ein Handball-Spiel mit Vorgeschichte
Rückblick: Der TBV Lemgo stand damals eigentlich vor einer Pflichtaufgabe auf dem Weg ins Endspiel. Das knappe 25:23 im Hinspiel hatten die Ostwestfalen als solide Grundlage gesehen. Mit dem nordmazedonischen Gegner waren Stephan und Co. in eigener Halle gut klargekommen. In der Mladost-Halle aber war Pelister Bitola nicht allein, es warteten rund 7.000 Fans, viele offenkundig gewaltbereit. Den deutschen Handballern, viele von ihnen hatten bis dahin nur wenige Spiele im Ausland bestritten, schlug der blanke Hass entgegen. Politisch motiviert? Aufgrund von „Sieg-Heil“-Rufen und zum Hitler-Gruß gestreckten Armen nicht ausgeschlossen. Aber vielleicht waren auch das lediglich Mittel zur Einschüchterung wie Flaschenwürfe und Kopf-ab-Gesten aus dem Publikum.
„Während des Spiels wurden wir beleidigt und angespuckt. Da sind brennende Zigaretten zur Auswechselbank geflogen“, erinnert sich Daniel Stephan. Er selbst hat danach noch einmal gegen Bitola gespielt, auch gegen die nordmazedonische Nationalmannschaft. „Rückblickend kann ich sagen, dass das Spiel 1996 wohl eine Momentaufnahme war. Denn die Spiele danach waren zwar immer emotional und eng, aber nie unfair.“ Anders als 1996.
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Kurioser Höhepunkt des Skandalspiels war die manipulierte Spielzeit, die nach dem entscheidenden Treffer des Kapitäns Frank Ziegler plötzlich eine halbe Minute extra anzeigte. Wer auch immer am Zeitnehmer-Tisch gesessen hatte, musste regelwidrig gehandelt und den Zeiger zurückgedreht haben. Ein im internationalen Handball einmaliges und unvorstellbares Vorgehen. Die beiden Schweizer Schiedsrichter jedoch hatten die Uhr genau im Blick und beendeten die Partie. Mit dem Resultat, das sich in der Halle und auf dem Weg in die deutsche Kabine regelrechte Jagdszenen abspielten - das Publikum war aufgebracht.
„Wir haben uns kurz übers Weiterkommen gefreut. Dann wurde uns klar, dass auch direkt vor der Kabine Gefahr droht“, erinnert sich Stephan. Als der Sportliche Leiter Dieter Schönbrodt seinen Kopf durch die Tür steckte, um zu sehen, wie es draußen aussieht, habe er einen Faustschlag kassiert, berichten Augenzeugen. Rund eine Stunde habe es gedauert, bis die Polizei anrückte und die verängstigten Ostwestfalen aus der Halle rettete.
Pelister Bitola durfte nach diesen Vorfällen zwei internationale Spiele nicht in der Mladost-Halle austragen, musste außerdem 10.000 Schweizer Franken an den Europäischen Handball-Verband EHF zahlen. Lemgo gewann gegen SB Santander kurz darauf den Europapokal. „Bis heute bin ich davon überzeugt, dass uns das Ereignis zusammengeschweißt hat“, sagt Stephan, für den das nordmazedonische Team auf dem Weg zu seinem zweiten Handball-Titel das vorletzte Hindernis war. Jetzt, so der 50-Jährige, seien die Rollen klarer verteilt als damals, auch wenn er die Auftakt-Begegnung der deutschen Handballer (27:14 gegen die Schweiz) mit vorsichtigem Optimismus betrachtet.
Handball-EM: Stephan schwärmt von Kulisse in Düsseldorf
„Ich weiß noch nicht, wo die Mannschaft steht. Aber es ist gut, dass sich der enorme Druck in so eine positive Stimmung verwandelt hat. Mit dieser Euphorie im Rücken traue ich unserer Mannschaft zu, dass sie was bewegt. Aber wir dürfen uns von dieser Euphorie nicht blenden lassen“, gibt Stephan nach dem Weltrekord-Spiel vor mehr als 53.000 Zuschauern zu bedenken. „Die Kulisse und Torhüter Andreas Wolff waren gigantisch“, lobt der Ex-Nationalspieler und Europameister von 2004.
Wolff hielt 61 Prozent der Bälle, war damit Matchwinner der Mannschaft von Alfred Gislason. So einen Ausnahmeakteur habe der Gegner am Sonntag nicht.