Köln. Das EM-Eröffnungsspiel in Düsseldorf wird das 100. Länderspiel von Jannik Kohlbacher. Der deutsche Kreisläufer im großen Interview.
Für Jannik Kohlbacher wird der Auftakt der Handball-EM am Mittwoch in doppelter Hinsicht ein besonderes Spiel. Mehr als 50.000 Zuschauer werden in Düsseldorf dabei sein, wenn die deutsche Mannschaft das Heimturnier gegen die Schweiz eröffnet (20.45 Uhr/ZDF). Der 28-jährige Kohlbacher wird dann ein Jubiläum im deutschen Trikot feiern. Und der Kreisläufer will die Anzahl der Länderspiele im Januar noch größtmöglich steigern.
Herr Kohlbacher, das Rekordspiel am Mittwoch vor über 50.000 Zuschauern wird auch für Sie zu einem persönlichen Rekordspiel: Es wird ihr 100. Auftritt als A-Nationalspieler werden.
Jannik Kohlbacher: Ja, das ist wirklich die Kirsche auf der Torte, dass ich vor so vielen Zuschauern mein 100. Länderspiel feiern darf. Ich glaube aber, dass sich da im Vorfeld verrechnet wurde. Nummer 100 hätte eigentlich die Generalprobe in Kiel am Samstag sein müssen, was irgendwie gepasst hätte. Mein erstes Spiel war auch eines im Rahmen einer Testreihe in Kiel, Flensburg und Hamburg. Für mein 50. Länderspiel wurde ich auch in Kiel geehrt, da hätte sich also ein Kreis geschlossen. Laut offizieller Datenbank wird Nummer 100 nun aber in Düsseldorf vor über 50.000 Zuschauern sein. Okay, das nehme ich auch gerne mit. (lacht)
Was bedeutet Ihnen diese Bestmarke?
Es ist eine Anerkennung und Bestätigung für die eigene Leistung. Es ist mein neuntes Jahr in der Nationalmannschaft und jetzt kommen 100 Länderspiele für Deutschland zusammen – das ist schon eine Riesenehre und ein Meilenstein in der Karriere. Ich hoffe natürlich, dass ich diese Zahl noch verdoppeln kann.
Im derzeitigen Kader der Nationalmannschaft haben nur Andreas Wolff (145), Kai Häfner (137) und der nun verletzte Patrick Groetzki (173) mehr Spiele absolviert.
Da schieße ich jetzt mal ein bisschen gegen Kai und Patrick – die sind mit jeweils 34 Jahren auch beträchtlich älter als ich. (lacht) Ich glaube aber, es wird schwierig, Patrick Groetzki einzuholen, der kann ja hoffentlich noch ein paar Jahre spielen. Viel anders sieht es bei Kai und Andi aber auch nicht aus. Die sind mit ihrer Anzahl an Länderspielen einfach eine ganze Ecke weit weg.
Bei der EM wollen Sie aber sicher mehr als die Länderspiele 100 bis 102. Was glauben Sie, ist möglich bei diesem Turnier?
Man hofft natürlich, dass es am Ende 109 sind. Wir wollen bis zum Ende kommen, aber wir wissen auch um die Qualitäten der anderen Mannschaften. Mit der Schweiz haben wir gleich zu Beginn vor dieser riesigen Zuschauerkulisse eine riesige Aufgabe vor der Brust. Klar werden die Zuschauer uns den Rücken stärken, aber so ein Spiel muss man auch erstmal über 60 Minuten spielen. Mit Nordmazedonien und Frankreich werden die Aufgaben auch nicht leichter in der Vorrunde.
Bei der WM 2019 in Deutschland waren Sie auch dabei. Was ist das Besondere an einem Heimturnier?
Wenn man die Turniere im Ausland spielt, so wie beispielsweise vergangenes Jahr die WM in Polen, dann hat man in der Regel einen Deutschland-Block in den Hallen. Und bei einer Halle mit beispielsweise 12.000 Plätzen ist sie für mich dann von der Atmosphäre leider so gut wie leer. Man ja hat ja 2007 und 2019 gesehen, was Handball-Deutschland bewirken kann. Die Hallen in Berlin, Köln und Hamburg waren brechend voll mit deutschen Fans, es wurden Gesänge angestimmt wie im Fußballstadion, gefühlt haben die Tribünen gebebt – da krieg ich jetzt noch Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Jetzt haben wir wieder ein Heimturnier, das Finale steigt wieder in Köln – mehr geht nicht.
Steht man bei einer Heim-EM mehr unter Druck als beispielsweise bei Turnieren in Frankreich oder Kroatien?
Schwer zu sagen… Ich glaube nicht, dass von uns unbedingt erwartet wird, das Turnier zu gewinnen. Wir hoffen und wünschen uns auf jeden Fall, bis ins Halbfinale zu kommen. Und ich glaube, die deutschen Fans werden uns einfach den Rücken stärken, egal ob es am Ende ins Finale, ins Spiel um Platz drei oder um Rang fünf geht.
Wie sehen Sie Ihre Rolle im Team?
Wir haben drei Kreisläufer in der Mannschaft, und unser Kapitän Johannes Golla wird den Löwenanteil der Spielzeit erhalten. Meine Rolle ist es, ihn zu entlasten. Wir harmonieren ganz gut miteinander, er hat die Hauptspielzeit, und wenn er geschont werden kann, wenn wir im Überzahlspiel sind oder wenn er mal verschnaufen muss, dann bin ich da und will der Mannschaft helfen.
2016 haben Sie Ihr erstes großes Turnier für Deutschland bestritten, das Europameisterteam nannte sich wegen der harten Gangart und der mannschaftlichen Geschlossenheit selbst „Bad Boys“. Wie würden Sie das aktuelle Team benennen?
Bad Boys eher nicht. Wir sind – um es vorsichtig zu formulieren – nicht diese knallharte Truppe von damals mit Finn Lemke, Hendrik Pekeler, Steffen Weinhold oder Martin Strobel. Die haben wirklich kräftig zugepackt, wenn da etwas auf uns zukam. Insofern war der Name damals gerechtfertigt. (lacht) Jetzt haben wir ein junges, hungriges Team, das nicht ganz so hart spielt, aber dafür cleverer und auch mit dem Ziel, jeden Zweikampf zu gewinnen.
Alfred Gislason ist nach Dagur Sigurdsson und Christian Prokop Ihr dritter Bundestrainer. Wie spielt es sich unter ihm?
Alfred hat immer einen klaren Matchplan, er hat seine Taktik vor jedem Spiel bereit und weiß ganz genau, wie wir in welchen Situationen zu reagieren haben und welche Spieler er bringen kann. Wie im ersten Testspiel gegen Portugal vergangenen Donnerstag: Da hat er in einer Situation Martin Hanne, eigentlich ein gelernter Linker Rückraumspieler, auf Linksaußen gegen die zurückgezogene Deckung der Portugiesen spielen lassen. Als der dann aber aus dem Rückraum direkt ein Tor warf, haben die Portugiesen die Deckung wieder offensiver gestaltet und wir hatten mehr Platz am Kreis. Also genau das, was wir wollten. Ein paar Asse hat Alfred immer im Ärmel.
Mit dabei bei der EM ist auch Schweden, allerdings könnte es frühestens im Halbfinale zum Aufeinandertreffen kommen. Was mich zu der Frage angesichts Ihres Privatlebens bringt: Was ist eigentlich ein Schwedisches Blumenhuhn?
Mehr oder weniger ein schwedisches Landhuhn, das aus mehreren Rassen gekreuzt wurde. Es legt sehr viele und sehr leckere Eier. Wir haben mehrere davon.
Das Stichwort: Sie sind auf einem Bauernhof nahe Mannheim aufgewachsen, der Weg zu Ihrem Arbeitgeber Rhein-Neckar Löwen ist nicht weit. Wie häufig sieht man Sie noch auf dem Traktor oder im Stall der Schwedischen Blumenhühner?
Vor ein paar Jahren hatten wir noch Rinder und Schweine im größeren Stil, aber das haben wir sehr runtergefahren. Jetzt haben wir noch Pferde, Alpakas, Hühner, viele Katzen – es ist mittlerweile eher eine Hobbyhaltung der Tiere. Aber gerade im Sommer habe ich schon Zeit, bei der Heuernte zu helfen. Für mich ist die Landarbeit einfach ein Ruhepol, man kann entschleunigen und die Natur genießen und man weiß am Ende des Tages, wo das Essen herkommt, das man auf dem Teller hat.