Frankfurt. Die Nationalmannschaft trifft am Montag in Bremen auf die vom Krieg geplagte Ukraine. Für den DFB ist es ein stolzes Jubiläum.
Es handelt sich um ein Testspiel in einem Sommer, in dem kein großes Turnier im Kalender steht. Die Bundesliga-Saison ist seit knapp zwei Wochen Geschichte, der Pokalsieger steht auch schon fest, genauso wie Auf- und Absteiger. Vermutlich gibt es dieser Tage nicht mehr das große Verlangen nach Fußball – und wohl erst recht nicht nach jenem der Nationalmannschaft, die sportlich schon weitaus bessere Zeiten erlebt hat.
Nationalmannschaft: Ruhmreiche und bittere Zeiten
Für Bernd Neuendorf, den Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), ist das nicht relevant, als er am Freitagmittag auf dem verbandseigenen Campus über das Spiel am Montag in Bremen (18 Uhr/ZDF) spricht – eines, das nur so vor Bedeutung trieft. Die deutsche Nationalmannschaft hat die Auswahl der Ukraine eingeladen, deren Land sich seit anderthalb Jahren im Krieg befindet, nachdem Russland es überfallen hatte. Ein „Statement“ sei diese Partie, betonte der 61-jährige Neuendorf: „Wir spielen mehr mit der Ukraine als gegen die Ukraine.“ Rudi Völler, der DFB-Sportdirektor, ergänzte: „Dass wir als Partner, als Familie zu den Ukrainern stehen, ist wirklich hervorragend.“
Nicht nur der Gegner macht das erste von drei Länderspielen in diesem Juni besonders. Es ist das 1000. der Verbandsgeschichte. Eine Marke, „eine unglaubliche Historie“, so Neuendorf, auf die der DFB mächtig stolz ist. Erst vier Nationen sind bislang in diesen elitären Kreis vorgedrungen: England, Brasilien, Argentinien und Südkorea.
Die Geschichte der deutschen Nationalmannschaft, die 1908 beginnt, ist ruhmreich. Viermal wurde sie Weltmeister, dreimal Europameister. Sie erlebte bittere Niederlagen und war in Skandale verwickelt. Rudi Völler, erst Spieler, dann Teamchef, jetzt Sportdirektor und immer eines der prägendsten Gesichter Deutschlands wichtigster Sportmannschaft, formulierte das so, wie es Rudi Völler eben macht: „Es wird immer noch Fußball gespielt, alle wollen gewinnen – aber es hat sich natürlich viel getan.“
DFB-Sportdirektor Völler schließt sich Kritik an Süle an
Es gibt zum Beispiel einen Trainer, und die Spieler kennen sich auch schon eine ganze Weile. Bei Länderspiel Nummer 1 am 5. April 1908 war das noch ganz anders. Der Verband hatte den Kader für den ersten Auftritt in Basel festgelegt, die Mannschaft traf sich erst ein paar Stunden vor Anpfiff bei der Ankleidung. Man frühstückte gemeinsam, ging in den Zoo, trank noch ein erfrischendes Bier – und verlor gegen die Schweiz mit 3:5. Trotzdem: der erste Meilenstein.
Der zweite folgte in Partie 223. Das Wunder von Bern, als Helmut Rahn gegen die Ungarn zum 3:2 aus dem Hintergrund schoss, war nicht nur der erste WM-Titel, sondern auch ein Festtag für die noch junge Bundesrepublik.
Man kann die großen Erfolge der Nationalelf in Nummern weitererzählen, die wohl nach Lesen dieses Textes schon vergessen worden sein werden: 396, 453, 567, 642, 892. Hinter ihnen aber verbergen sich die Geschichten, die Szenen, die Tore für die Ewigkeit: Wie es im WM-Finale 1974 gegen die Niederlande müllerte. Wie Horst Hrubesch das EM-Endspiel gegen Belgien 1980 entschied. Wie Andreas Brehme 1990 gegen Goycochea verwandelte. Wie Oliver Bierhoff Schütze des ersten Golden Goals der Geschichte wurde – und Deutschland damit 1996 Europameister gegen Tschechien. Wie Mario Götze den Ball 2014 im Finale gegen Argentinien versenkte und der Welt in einem kurzen Moment bewies, dass er besser als Messi ist. Wieder Weltmeister.
Bedeutung über den Sport hinaus
Die Geschichte der deutschen Nationalmannschaft ist überwiegend eine gute, aber längst nicht nur. Sie erlebte bittere Niederlagen. In Spiel 316, dem WM-Finale 1966, kassierte sie das berüchtigte Wembleytor; im Jahrhundertspiel 1970, dem WM-Halbfinale in der brütenden Hitze des Aztekenstadions von Mexiko-Stadt, verlor sie 3:4 nach Verlängerung gegen Italien – Spiel 353. Apropos Italien: Partie 779; Fabio Grosso beendete 2006 im Dortmunder Stadion jäh das Sommermärchen. Und dann war da ja noch Nummer 434: die Schmach von Cordoba, das 2:3 bei der WM 1978 gegen Österreich.
Manche Siege waren auch Niederlagen. Die Bundesrepublik gewann bei der Weltmeisterschaft 1982 gegen Österreich mit 1:0. Ein Ergebnis, das beide Mannschaften in die nächste Runde beförderte. Aber wie! Zum Leidwesen der Algerier einigten sich die Teams nach der frühen DFB-Führung ganz offensichtlich auf einen Nichtangriffspakt. Spiel 476, besser bekannt als Schande von Gijon.
Die Bedeutung der Nationalmannschaft ging immer weit über den Sport hinaus. Sie kann beflügeln wie beim Wunder von Bern. Immer öfter werden auf ihren Schultern jedoch auch die gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit diskutiert, weil an Profifußballer eine gewisse Erwartungshaltung geknüpft ist. Sie sind Identifikationsfiguren und müssen bestimmte Werte vertreten. Ein Spannungsfeld, das in den Länderspielen 945 und 995 besonders klar sichtbar wurde.
Annäherung zwischen DFB-Elf und Fans ist ein Langzeitprojekt
Spiel 945 besiegelte am 27. Juni 2018 nicht nur das Vorrunden-Aus bei der Weltmeisterschaft in Russland. Das 0:2 gegen Südkorea war gleichzeitig der letzte Auftritt von Mesut Özil im DFB-Dress. Der Mittelfeldspieler hatte sich vor dem Turnier mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ablichten lassen. Wahlwerbung für einen Politiker, der die Demokratie Stück für Stück ausgehöhlt hat. Auf Özil und den DFB brach ein Sturm der Entrüstung ein, dem weder Verband noch Spieler gewachsen waren. Später warf Özil dem DFB Rassismus vor. Und Spiel 995? Da trug Kapitän Manuel Neuer gegen Japan eine gewöhnliche Armbinde statt jene mit dem One-Love-Symbol, mit der die Mannschaft in Katar eigentlich für Toleranz werben wollte. Der Weltverband Fifa hatte sie verboten, die Spieler hielten sich beim Gruppenfoto als Protest die Hand vor den Mund. Weil die Mannschaft in der Vorrunde scheiterte, wurde die Aktion zum PR-Desaster.
Das Debakel von Katar ist ein gutes halbes Jahr her. Auch die Auftritte im März waren nicht überzeugend – und die Heim-Europameisterschaft, von der sich der DFB ja ein Sommermärchen 2.0 erhofft, beginnt schon in einem Jahr. Dazu belasten den Verband mal wieder Finanzprobleme, er „schleppt ein strukturelles Defizit von 19,5 Millionen Euro“, vor sich her, betonte DFB-Chef Neuendorf am Freitag. Der letzte Eindruck bleibt.
Deutschland will Begeisterung entfachen
So richtige Feierstimmung zum Jubiläum mag da rund um die Nationalelf eigentlich nicht aufkommen, doch Neuendorf versprach: „Exakt ein Jahr vor Beginn der EM wollen wir Fans gewinnen und begeistern für das Turnier.“ Das war in der Verbandsgeschichte lange eine Selbstverständlichkeit. Im 1000. Länderspiel muss sich die Mannschaft noch mal vieles neu erarbeiten.