Schwelm. Sie wollten eigentlich schnell wieder zurück. Was Stanislava und Daria (18) nun doch hier hält - und was sie an Deutschland mögen.
Stanislava Sherchenko und Daria Chepiho sind sichtbar nervös. Im Aufenthaltsraum der Volkshochschule im Schwelmer Kulturhaus rutschen sie unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Die beiden 18-jährigen Ukrainerinnen schämen sich ein wenig, dass sie nach dem letzten Treffen vor zwei Jahren nicht wesentlich besser Deutsch gelernt haben. Dabei scheint die Zurückhaltung doch gar nicht angebracht.
Im Gegenteil: Die jungen Frauen, die in Schwelm mit ihren Müttern wohnen, beherrschen die Sprache des Landes, in das sie vor zweieinhalb Jahren geflohen sind, recht gut. Manchmal nur wählen sie Worte wie „portieren“ statt „transportieren“. Die beiden stammen aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, die immer wieder seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 massiven russischen Raketen und Drohnenangriffen ausgesetzt ist.
In Deutschland angekommen
Stanislava Sherchenko ist, wie sie selbst sagt, in Deutschland angekommen. Damals, beim ersten Treffen im Berufskolleg in Ennepetal im Mai 2023, antwortete sie auf die Frage, ob sie in Deutschland bleiben will: „Die Chancen liegen bei 50:50. Ich würde gerne Medizin studieren.“ Sie sah die Möglichkeit, in „zwei, drei Jahren nach dem Krieg“ in ihr „geliebtes Heimatland“ zurückzukehren. „Die brauchen uns junge Menschen doch für den Wiederaufbau.“
Nach zwei Jahren hat die 18-Jährige die Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr begraben: „Mein Herz schmerzt, aber ich sehe meine Zukunft mittlerweile in Deutschland“, erzählt sie. Sie habe sich an das friedvolle und sichere Leben hierzulande gewöhnt - und sie will nicht „noch Jahrzehnte warten, bis es in meinem Heimatland annähernd so ist“. Die junge Ukrainerin will nun Chemielaborantin werden. Im nächsten Monat beginnt sie ein Praktikum beim Chemieriesen Bayer. An der VHS in Schwelm belegt Stanislava Sherchenko einen Integrationskurs für Jugendliche, nimmt auch an einem Deutschkurs teil.
Ihre zweitbeste Freundin nach Daria sei eine 60 Jahre alte Deutsche, die sie im ukrainisch-deutschen Freundeskreis Schwelm getroffen habe. „Sie hilft mir, mein Deutsch zu verbessern.“ In wenigen Tagen beginnt die 18-Jährige ein weiteres Praktikum. In einer Apotheke. Sie freue sich „riesig“ auf den kommenden Sommer. „Dann besucht mich eine Freundin aus Charkiw“, erzählt sie. „Wir wollen viel Spazierengehen. Über all das reden, was man sich in diesem Alter eben erzählt.“
Sie verbringen viel Zeit mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern
Die beiden Frauen verbringen viel Zeit mit Ukrainerinnen und Ukrainern. „500 leben in der Community in Schwelm – und wir kennen alle“, berichtet Stanislava Sherchenko. Deutsche Freunde hätten sie wenige. Das hänge auch damit zusammen, dass sie so viele Kurse besuchten. „Integrationskurse für Jugendliche, Sprachkurse und vieles mehr. Ukraine ist und bleibt aber meine Heimat,“ so Stanislava Sherchenko, aber sie könne dort nicht mehr leben. „Vielleicht besuche ich, wenn der Krieg irgendwann einmal vorbei ist, für ein paar Tage die Orte in Charkiw, die mir ans Herz gewachsen sind.“ Die junge Frau mag deutsches Bier und „definitiv nicht die Deutsche Bahn“. Selbst an das hohe Tempo des Lebens in Deutschland habe sie sich gewöhnt. „Hier läuft alles schneller ab.“ Mittlerweile könne sie auch „alles in Eile erledigen“.
„Es ist schwierig, sich mit den Deutschen darüber zu unterhalten, weil man nie weiß, welcher Partei sie angehören und ob sie Ukrainern gegenüber freundlich gesinnt sind.“
Daria Chepiho fehlt, wie ihrer Freundin, der „viele Schnee im Winter“. Das sei in Charkiw immer ein bisschen wie im Märchen gewesen. Der warme Winter in Schwelm sei nasskalt, „gewöhnungsbedürftig“. Die 18-Jährige hat in Deutschland schon einiges gesehen. „Düsseldorf gefällt mir gut, da könnte ich mir vorstellen, zu leben“, erzählt sie.
Schwierige politische Lage
Stanislava Sherchenko verfolgt die politische Lage in Deutschland. „Es ist schwierig, sich mit den Deutschen darüber zu unterhalten, weil man nie weiß, welcher Partei sie angehören und ob sie Ukrainern gegenüber freundlich gesinnt sind.“ Deshalb vermeide sie Unterhaltungen über politische Themen. „Ich hatte schon öfters Probleme mit Russlanddeutschen. Oft wird uns vorgehalten, dass wir alles geschenkt bekommen und nichts dafür tun.“ Sie frage sich manchmal, warum die Russlanddeutschen „hier in Deutschland leben, wenn sie Putin so toll finden“.
Ihre Mutter, berichtet Stanislava Sherchenko, sei in der Ukraine Journalistin gewesen. „Ich bin traurig, wenn ich sehe, wie sie leidet, nicht arbeiten zu können.“ Sie spricht von „großem Schmerz“ und erinnert sich an ihre gemeinsame Flucht. Bereits am zweiten Tag nach dem Überfall der Russen floh sie mit ihrer Mutter und Großmutter in den Westen nach Lwiw. Ende Mai 2022 gingen sie zu Fuß über die Grenze nach Polen, zwei Tage später „landeten wir mit Hilfe der Caritas in Wuppertal“. Zurück blieb ihre Katze namens „Bootsmann“: „Ein Nachbar hat sich ein halbes Jahr um sie gekümmert.“ Jetzt seien sie alle wieder vereint.
„Ich musste meinen Großvater noch einmal sehen. Er ist sehr krank.“
Im Deutsch-Ukrainischen Zentrum in Schwelm sind die beiden jungen Frauen aktiv, helfen beim Sammeln von Spenden. Lebensmittel, Kleidung, Geld. Im ukrainischen Verein gibt Stanislava Sherchenko Kindern Malunterricht. „Malen ist meine Leidenschaft“, sagt sie. Sie zeigt Bilder, die sie geschaffen hat. Kraftvolle Farben auf weißem Grund, die Lebensfreude ausdrücken sollen.
Berufswunsch Optikerin
Auch Daria Chepiho hat ihren Berufswunsch geändert: Erst wollte sie Krankenschwester werden, nun strebt sie einen Job als Optikerin an. Bei einem großen Familienunternehmen fängt sie nächste Woche ihr Praktikum an. „Die wollen mich kennenlernen, ob ich zu ihnen passe“, sagt sie. Auch sie will in Deutschland bleiben. 2024 war sie zu Besuch bei ihren Großeltern in einer Stadt nahe der Ostfront. Sie habe während ihres Besuches mehrere Explosionen von Raketen in der Stadt gehört. „Sie ist vollkommen zerstört, nur verrußte Ruinen sind übrig geblieben. Ich musste meinen Großvater noch einmal sehen. Er ist sehr krank“, sagt sie unter Tränen. Sie nennt den Ort „schwarze Stadt“. Und davon gebe es in der Ukraine zu viele. Auch sie habe die Hoffnung auf ein gutes Ende des Krieges seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump verloren. Von Politik will sie nichts hören.
Daria Chepiho findet es traumhaft, dass man in Deutschland nicht „den ganzen Tag lang mehr als acht Stunden arbeiten darf“ und geregelten Urlaub per Gesetz zugestanden bekommt. Sie haben sich sogar an die, wie sie berichten, „Bürokratie der Deutschen gewöhnt – und dass die Geschäfte abends so früh schließen und sonntags Ruhetag ist“. Beide wünschen sich „eine eigene Familie, einen sicheren Job – und vor allem: keinen Krieg.“ Während Stanislava Sherchenko in ihrer Freizeit gerne malt, spielt Daria Chepiho im Schwelmer Sport Club 1895 in einer Mannschaft mit Ukrainerinnen Volleyball. „Da kann ich abschalten.“ Früher berichtet sie, habe sie für ihr Leben gerne getanzt. Das habe sie mit Kriegsbeginn nie wieder „leidenschaftlich“ machen können.
Beste Freundinnen
Stanislava Sherchenko und Daria Chepiho scheinen drei Jahre nach Kriegsbeginn ganz im Hier und Jetzt angekommen zu sein. Im Park vor dem Schwelmer Kulturhaus vergessen sie beim Spaziergang für einen Moment die Tränen treibenden Telefonate mit Freunden und Verwandten in der Ukraine, die bei jedem Luftangriff der Russen das Gespräch beenden müssen. Sie sind beste Freundinnen, die nach dem Gespräch ausgelassen wie zwei Mädchen im Park spielen, lachen. Ihre Augen glänzen, das Stehkarussell dreht sich immer schneller, ihre Haare fliegen im Wind. Sie sind dankbar für die Gastfreundschaft der Deutschen. Dankbar, dass sie ein Leben wie andere 18-Jährige hierzulande leben dürfen. Sie sagen unisono: „Deutschland ist unser neues Zuhause.“
1,3 Millionen Ukrainer leben in Deutschland
Im Oktober 2024 lebten laut Ausländerzentralregister rund 1,3 Millionen Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Im erwerbsfähigen Alter sind aktuell laut Bundesagentur für Arbeit 768.000 der nach Deutschland geflüchteten Ukrainer – knapp zwei Drittel davon Frauen. 717.000 ukrainische Geflüchtete erhalten demnach Grundsicherung für Arbeitsuchende – und damit Bürgergeld: 505.000 davon erwerbsfähigeund 212.000 nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte, in der Regel Kinder. Der Bürgergeld-Regelbetrag liegt für Alleinstehende und Alleinerziehende bei 563 Euro, bei Kindern je nach Alter zwischen 357 und 471 Euro pro Monat.
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