Dortmund. Russlanddeutsche, Ukrainer, Polen - sie alle kommen in das russische Lebensmittelgeschäft Wostok. Kann das funktionieren?
Dortmund. Gennadij Buls lächelt. Der 52-Jährige stammt aus einem kleinen Dorf in Südkasachstan. Seine Frau, erzählt er, kaufe im russischenMini-Markt „Wostok“ in Dortmund-Bodelschwingh täglich ein. Vor allem Fleisch- und Fisch-Spezialitäten wie Dorschleber in Dosen oder Wurst Doktorskaja. „Pure Nostalgie“, sagt er. Heute sei er ausnahmsweise einmal für „seine Liebste“ eingesprungen. „Und Wladimir Putin“, ergänzt er ungefragt, „finde ich gut.“
Die Wattenscheidskampstraße mit dem Lebensmittelgeschäft wird auch das russische Viertel genannt. Vor allem Zuwanderer aus Russland, ukrainische Flüchtlinge und Polen kaufen im Wostok ein. Vor zwei Jahren, zu Beginn des Ukraine-Krieges, haben wir uns dort, wo Hochhäuser das Straßenbild dominieren, schon einmal umgehört. Inhaberin ist Ella Sapun (50). 80 Prozent ihrer Kunden stammen aus Kasachstan. Viele verehren den russischen Präsidenten noch immer - und sind der Ansicht, dass der Angriffskrieg gerecht sei, sich Russland nur gegen die Nato-Osterweiterung und Demütigungen der vergangenen Jahre durch den Westen wehren müsse.
Buls ist einer von ihnen. Seit 25 Jahren lebt er in Deutschland, seit 14 Jahren in Dortmund. Er liebe dieses Viertel nahe Castrop-Rauxel. „So viele Gleichgesinnte. So viele Menschen, die dasselbe wie ich erlebt haben und so denken wie ich.“ Nach harten Jahren im fremden Deutschland sei NRW seine Heimat geworden. Auf Fragen zum Ukraine-Krieg schweigt er sekundenlang. Dann blickt er über seine Brille hinweg in die Ferne - und sagt: „Wissen Sie, ich fühle mich hier in Deutschland beschützt.“ Er reibt seine Knie, die schmerzten von der Arbeit als Lagerist und Paketzusteller. Die Waffenlieferung der EU an die Ukraine findet der 52-Jährige einen „großen Fehler“. „Die Ukraine hat keine Chance, die können nicht gewinnen, das wissen die auch – und trotzdem schicken sie ihre Jugend in den Tod.“
Gute Berater in Moskau
Zwei Jahre hat Gennadij Buls im russischen Militär gedient. Er sieht den Angriffskrieg als Befreiungskrieg an. „Alle deutschen Medien schlagen auf Putin ein, aber der hat gute Berater an seiner Seite in Moskau.“ Den Plan der USA, ab 2026 Langstreckenraketen und Marschflugkörper in Deutschland zu stationieren, sieht er als große Gefahr. „Ich weiß, wie die Russen ticken.“ Wenn Raketen aus dem Osten kommen, dann hoffe er auf ein „schnelles Ende“. „Am besten trifft dann eine Rakete das Haus, in dem ich wohne, eben alles kurz und schmerzlos“, sagt er sarkastisch und fügt hinzu, dass er „nun gehen muss“. Seine Frau warte auf ihn. „Das Mittagessen ist fertig.“ Aus seinen Einkaufstaschen lugen „SladoJar Prjaniki“ mit Melonenfüllung und Haferkekse „Hrum-Hrum“ in knallbunten Verpackungen. „Süße Versuchungen“, nennt er sie.
Neri und ihr Elefant
Eine weitere Kundin ist Neringa Lenkutiene. Sie verkauft Souvenirs aus Papier. Ihre farbigen Herzen kann man auch im „Wostok“ kaufen. Nachdem sie lange ihr Handy in der kleinen Umhängetasche gesucht hat, zeigt sie - nach einem: „Hab‘s endlich“ - stolz die Früchte ihres Kleingewerbes: Sie öffnet ihr Fotoarchiv, zeigt ihre Kunstwerke aus Papier, wie einen aus 2900 Schnipseln zusammengefügten Elefanten. Ihre Tischdekorationen verkauften sich gut. Zweimal die Woche ist die 53-Jährige im russischen Lebensmittelgeschäft. Neri nennen sie die deutschen Nachbarn, von denen es in dieser Straße nicht viele gibt.
„Wir wissen doch alle: Für das Baltikum reichen drei große Bomben. Bis die Nato eingreift, ist alles schon vorbei. Da werden die Litauer nichts mehr von haben.“
Neringa Lenkutiene stammt aus der zweitgrößten Stadt Litauens, aus Kaunas. Seit 22 Jahren nennt die 53-Jährige Deutschland „ihr Zuhause“. Ihre Enkelkinder würden Litauen nicht kennen: „Die sind durch und durch deutsch“. Sie hat sich litauischen Schmand im „Wostok“ gekauft. „Der schmeckt anders, ein wenig wie Crème fraîche und doch mit einer würzigeren Note im Nachgeschmack.“ Den bekomme sie nur hier. „Litauen“, so Neringa Lenkutiene, „war das erste Land, das aus der russischen Union ausgetreten ist.“ Das sei das Ende von Putins Traum vom großrussischen Reich zu Lebzeiten gewesen.
Dank für tapferen Kampf
„Russen, Ukrainer, Polen, Litauer - in Ella Sapuns Laden kommen alle miteinander aus. Da ist der Krieg weit weg und Politik auch tabu“, weiß Neringa Lenkutiene zu berichten. Auf der Straße, ja, da werde der Ton schon das eine oder andere Mal rauer, vor allem bei den Jugendlichen. „Die schauen alle nur russisches Staatsfernsehen und das seit 20 Jahren, die glauben, was das an Informationen preisgegeben wird, sei die Wahrheit.“ Die 53-Jährige setzt sich seit zwei Jahren für die Ukraine ein und geht mit der Gruppe „Blau-Gelbes Herz“ zu Demonstrationen gegen den Angriffskrieg von Putin. Zuletzt am 8. Juli dieses Jahres in Dortmund. Zum Beweis zeigt sie ein Video. „Ich habe Angst, dass Putin unser kleines Land auch überfällt“, sagt sie. Sie danke dem Volk der Ukraine für seinen tapferen Kampf. „Wir wissen doch alle: Für das Baltikum reichen drei große Bomben. Bis die Nato eingreift, ist alles schon vorbei. Da werden die Litauer nichts mehr von haben.“ Der Flughafen von Kaunas liege nahe der Wohnung ihrer 82 Jahre alten Mutter. Wenn Russland angreife, dann seien die Flughäfen das erste Ziel.
Stolz auf süße Pelmenis
Ella Sapun, deren Eltern aus der Ukraine stammen, führt den russischen Markt seit 2000 gemeinsam mit ihrem Ehemann. 80 Prozent ihrer Kunden, berichtet die 50-Jährige, seien Aussiedler aus Russland, die in Dortmund und umliegenden Städten eine neue Heimat gefunden hätten. Auch viele Polen kauften bei ihr ein. „Und einige Ukrainer.“ Die Deutschrussin ist stolz auf ihre mit Fleisch gefüllten Teigtaschen, den Pelmenis. Gut verkaufen ließen sich auch Prjaniki, typisch russisches Gebäck und Schaumkuchen. Sie selbst stammt aus Kasachstan. Und sie nennt den vom russischen Präsidenten befohlenen Einmarsch in die Ukraine offen „einen Fehler“. Ihre Ansichten, verrät Ella Sapun, kämen bei den Verwandten in Russland nicht gut an: „Ich streite mich ständig mit ihnen.“ In zwei Jahren, sagt sie, habe sich nicht viel geändert. „Außer, dass wir in unserem Geschäft gar nicht mehr über Politik reden.“ Dafür sei sie zu sehr Geschäftsfrau. Sie kennt ihre Kunden. Darunter seien auch welche, die die Ukraine am liebsten in Schutt und Asche sehen würden. Mittlerweile verrät sie, kaufe sie mehr Ware in der Ukraine als in Russland ein. „Aus Solidarität!“
Russische Musik tönt aus den Lautsprechern. Die Kundschaft besteht fast nur aus Senioren.
Das Attentat auf US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump nennt Ella Sapun verwerflich. Letztlich habe sie es aber nur registriert. „Ich bin dickhäutig geworden, anders geht es angesichts der vielen Krisen auch nicht, sonst würde ich ja nur weinen.“
Geliebte Salzheringe
Beate Rummler ist eine der wenigen Deutschen, die sich im „Wostok“ verirren. „Ich komme nur selten vorbei, meistens, wenn die Salzheringe angeboten werden, die mag meine Mutter so gerne.“ Im Mini-Markt blickt sie sich um, staunt über die vielen Schilder in kyrillischer Schrift. Sie beobachtet eine Weile die Kunden, die zwischen den Regalen hin und her laufen. Alle haben ein Lächeln im Gesicht, fällt ihr auf. Hier gehe es doch friedlich zwischen Ukrainern und Russen zu. „Geht doch“, sagt sie.
Auch Jörg Sommer ist Kunde. Der großgewachsene Mann mit weißem Bart stammt von der mittlerweile von Russland annektierten Krim. 1991 kam der 69-jährige HNO-Arzt im Ruhestand nach Deutschland. Auch er hat wie Beate Rummler Salzheringe gekauft. Er hält Donald Trump für den besseren US-Präsidenten. „Trump ist ein Mann, der sagt, was er denkt, davon gibt es in der Politik viel zu wenige.“ Außerdem sei Trump ein erfolgreicher Geschäftsmann. Das imponiere ihm. Zu der Ampelregierung will er lieber nichts sagen. „Sonst werde ich noch verhaftet. Nur so viel: Wir müssen nun für die Inkompetenz in Berlin alle bezahlen, weil die Wirtschaft im freien Fall ist.“ Nachbarn wie Polen oder Frankreich lachten sich „über Deutschland schlapp“. Was sei „bloß aus unserem Land geworden“. Gleichzeitig outet er sich als großer Angela-Merkel-Fan. „Doktorandin, Chemie studiert, die wusste, was sie tat.“ Sommer blickt auf die Fenster gegenüber dem Mini-Markt, aus denen ukrainische Flaggen mit dem Dreizack-Symbol, dem Staatswappen, das einen Falken im Sturzflug symbolisiert, hängen. Er kann seinen Unmut darüber kaum bremsen: „Die sollten alle wieder zurück in die Ukraine. Denen wird das Geld hinterhergeschmissen, während andere dafür hart arbeiten müssen. Das ist unsere Heimat und nicht deren.“
Im Einsatz für kubanische Soldaten
„Kennen Sie Krieg?“, fragt Sommer. „Ich schon.“ 1984 sei er im Bürgerkrieg in Angola involviert gewesen. „Als Schiffsarzt nahe Luanda im Einsatz.“ Dort habe er schwer verwundete kubanische Soldaten behandelt. Krieg sei grausam – „und die Ukraine muss endlich verstehen, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen kann.“ Die Ukraine könne nicht selbstständig existieren. Sie müsse sich für Russland entscheiden. Das bedeute Überleben.
Drei Männer kaufen sich derweil polnisches Bier, stehen für Fragen nicht zur Verfügung, suchen das Weite.
Keine freundlichen Worte
Nahe des Mini-Marktes sitzt Jurii Zvonar auf einer Mauer. Die Sonnenbrille cool aufs Haupthaar geschoben. Der 19-Jährige passt auf seine beiden kleinen Brüder, auf, während seine Mutter im Laden einkauft. Seit zwei Jahren lebt der Ukrainer in Dortmund. Er mag die Süßigkeiten aus dem „Wostok“. „An Politik habe er kein Interesse.“ Er ist wortkarg. Der Krieg in seiner Heimat, Verwandte, Gefühle? Er schweigt, blickt zu Boden. Fragen zu seiner Wehrfähigkeit sind ihm unangenehm.. Er sehne sich nach Frieden. Seinen Heimatort in der Westukraine will er nicht verraten, über das Warenangebot im Mini-Markt, darüber könnten wir reden, „mehr nicht“. Ein älterer Mann mit weißem Spitzbart unter einem Tropenhut und vollen Einkaufstüten lauscht dem Gespräch - und murmelt beim Tritt in das Pedal seines Fahrrads etwas auf Russisch. Freundlich klingt es nicht.
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