Werl. Rolf Stieber war 25 Jahre Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Werl. Wie er dort Mördern und Serientätern begegnet ist.

Wenn James Belushi und Dan Aykroyd im Spielfilm „Blues Brothers“ nach ihrer Legitimation als Kleinkriminelle gefragt wurden, antworteten sie: „Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs.“ Rolf Stieber hat in seinem Berufsleben keinesfalls eine dunkle Sonnenbrille, einen Hut und einen schwarzen Anzug getragen, wie die Helden des Klassikers. Und wie eine Filmkomödie war sein Arbeitsalltag auch nicht. Wenn er aber erklären musste, warum er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl als evangelischer Gefängnisseelsorger arbeitet, hat er gerne die Blues Brothers zitiert: „Ich bin im Auftrag des Herrn unterwegs.“

In Werl sind die schwersten der schweren Jungs untergebracht: Mörder, Vergewaltiger, Serientäter. Rolf Stieber ist ihnen 25 Jahre lang begegnet – bis zu seinem Ruhestand Ende 2022. „Man muss eine gewisse Menschenliebe mitbringen“, sagt der promovierte Theologe und zitiert wie in seinem soeben erschienenen literarischen Sachbuch „Lebenslänglich. Begegnungen auf Seelenhöhe“ (Verlag für Gefängnisseelsorge) den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau: „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch.“

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Dieser Satz sei immer sein Leitthema gewesen, sagt Stieber und beschreibt, wie man Schwerkriminellen hinter Gittern als Seelsorger begegnet: „Mit doppeltem Respekt.“ Da wäre zum einen, „nicht zu verharmlosen oder gar zu entschuldigen, was der Inhaftierte getan hat“. Aber keiner der Inhaftierten sei auf die Welt gekommen, um Straftäter oder gar Mörder zu sein, der jetzt jahrelang oder ein ganzes Leben lang für seine Schuld bezahlen müsse.

Was macht Kirche an dem Ort?

Der 66-Jährige ist für sein Buchprojekt selbst auf den Verlag für Gefängnisseelsorge zugegangen. Warum? „Als ich die letzte von 18 anonymisierten Geschichten über die Begegnung mit Gefangenen geschrieben hatte, war das für mich wie ein zweites Abschiednehmen von meiner Arbeit“, sagt Stieber.

Autor Rolf Stieber.
Rolf Stieber war ein Vierteljahrhundert evangelischer Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Werl. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Zudem habe er einen Eindruck geben wollen, was das für Menschen sind, die an einem für die Öffentlichkeit unsichtbaren Ort lange Haftstrafen verbüßen: „Neben jenen, die sich nicht von ihren Taten distanzieren und weiter kriminell bleiben wollen, gibt es eben auch solche, die zum Beispiel von einer Sekunde auf die andere zum Mörder geworden sind, was sie sich eine Stunde vorher nie und nimmer haben vorstellen können. Diese Menschen hatten vor der Tat ein Leben, und haben eines danach. Das wollte ich zeigen. Und auch, was Kirche an diesem Ort macht.“

Als Christ unterwegs

An einem Ort von Menschen, die das fünfte Gebot - Du sollst nicht töten - gebrochen haben. Wie passt das zusammen? „Ich vertrete eine Kirche und einen Glauben, der auch diesen Menschen eine Würde zuspricht“, sagt der Pfarrer, „eine Würde, die sie nicht verlieren können, weil sie ihnen von Gott verliehen wurde.“ Er sei als Christ unterwegs, so Stieber weiter, habe also auch denen sein Ohr geschenkt, die es „nach landläufiger Meinung am wenigsten verdient haben“.

In einem Gefängnis zu arbeiten, ist keine einfache Aufgabe. Und für einen Seelsorger, dem sich Gefangene anvertrauen, erst recht nicht. Rolf Stieber seufzt hörbar und sagt: „Auch durch die Schweigepflicht habe in den 25 Jahren so einiges erfahren, bei dem ich gedacht habe: Das hätte ich am liebsten nicht gewusst.“

Ein Beruf, der Professionalität verlangt

Der Westfale spricht von einer Last, die man trägt, „wenn man erfährt, dass da jemand noch einen Mord begangen hat, der bisher ungesühnt geblieben ist. Man denkt sofort an das Opfer und seine Angehörigen. Die immer noch nicht wissen, was geschehen ist, die keinen haben, den sie verantwortlich machen können.“

Der Autor Rolf Stieber am Dienstag den 28. Januar 2025 vor der JVA in Werl. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services

„Für das System Gefängnis ist die Schweigepflicht eine Provokation, für den Inhaftierten ein Segen.“

Rolf Stieber
früherer Gefängnisseelsorger

In diesen Momenten erinnerte sich Stieber daran, dass er nicht als Privatperson in der JVA ist, dessen Gefühle bei derartigen Schilderungen Achterbahn fahren, sondern tatsächlich „im Auftrag des Herrn und dass die Schweigepflicht unverbrüchlich gilt. Als Gefängnisseelsorger ist man in einer Rolle, die ein hohes Maß an Professionalität verlangt.“

In seinem Buch hat Stieber die Thematik in einen prägnanten Satz gefasst: „Für das System Gefängnis ist die Schweigepflicht eine Provokation, für den Inhaftierten ein Segen.“ Stieber sieht darin aber sogar von einem „Sicherheitsgewinn“ für eine JVA: Gefangene stünden oft unter einem großen inneren Druck. Weil sie das, was sie innerlich bedrängt, innerhalb des Systems Strafvollzug nicht sagen könnten. Weil sie dadurch Nachteile hätten. „Indem sie es beim Seelsorger sagen können, fällt der Druck ab, der sich sonst womöglich an anderer Stelle unkontrolliert Bahn gebrochen hätte.“

Zuvor als Gemeindepfarrer tätig

Als sich Rolf Stieber einst auf die Stelle des Gefängnisseelsorgers in Werl bewarb, war er vorher Gemeindepfarrer und hat viele Krankenhausbesuche gemacht: „Die Nähe zu Menschen in einer Ausnahmesituation, die seelsorgerische Begleitung hat mich schon immer fasziniert.“ Er habe sich anfangs „nie im Leben“ vorstellen können, 25 Dienstjahre in der JVA zu arbeiten - er hätte sofort aufgehört, wie er sagt, wenn er „das Gefühl bekommen hätte, in der Institution Strafvollzug nur ein Feigenblatt für Unmenschlichkeit“ gewesen wäre. Oder wenn die Tätigkeit ihn psychisch krank gemacht hätte: „Das System Gefängnis ist ja nicht gastlich. Was man da hört, ist sehr belastend. Aber ich habe immer gut für mich gesorgt, habe regelmäßig an Supervisionen teilgenommen und mich mit anderen austauschen können.“

Autor Rolf Stieber.
„Als ich die letzte von 18 anonymisierten Geschichten über die Begegnung mit Gefangenen geschrieben hatte, war das für mich ein zweites Verabschieden von der Arbeit“, sagt Rolf Stieber (66). © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

In seinem Buch hat Rolf Stieber „fiktionalisierte Biografien“ von Gefangenen veröffentlicht, wie er sie nennt. Zum Beispiel die Geschichte von Herrn Matic, einem psychisch Kranken. „Mit solchen Menschen kann der Strafvollzug nicht gut umgehen“, sagt der Pfarrer, „er ist hier völlig überfordert.“ Psychisch kranke Straftäter seien „Systemsprenger“, bei denen die üblichen Sanktions- und Ordnungsmöglichkeiten oft ins Leere liefen: „Der Strafvollzug hat einige Stärken, aber auch große Schwächen. Ich denke da auch an eine allumfassende Misstrauenskultur.“

Oder an die Perspektiven von Inhaftierten, die ja in der Regel irgendwann entlassen werden: „Ein Tag im Strafvollzug ist unfassbar teuer. Warum kann man nicht Gefangene, die 20, 25 Jahre hinter Gittern bleiben sollen, früher entlassen und das Geld in eine engmaschige Begleitung in der Freiheit gerade in der Anfangszeit stecken? Viele von ihnen würden sehr wahrscheinlich draußen klarkommen.“ Stattdessen sei da „eine systembedingte Perspektivlosigkeit: Sie kommen nicht in Freiheit, weil die Entscheidungsträger eine Riesenangst haben, dass ein Entlassener wieder straffällig wird.“

Ehrenamtlich weiter aktiv

Stieber will die Sache nicht verharmlosen: „Viele Straftäter, vor allem wenn sie suchtkrank sind, werden rückfällig. Es gibt aber auch viele entlassenen Gefangene, die anschließend ein straffreies Leben führen.“ Einen Satz wie: „Wegsperren - und zwar für immer“, die Alt-Kanzler Gerhard Schröder einst mit Bezug auf Sexualstraftäter gefordert hatte, lehnt er ab: Dies sei mit meinem Glauben nicht vereinbar. Man muss aufpassen, dass eine Gesellschaft nicht ihren eigenen Schuldanteil delegiert. Sie muss auch eine gewisse Bereitschaft haben, ein Risiko einzugehen.“

Hintergrund

Das literarische Sachbuch „Lebenslänglich. Begegnungen auf Seelenhöhe“ ist im Verlag für Gefängnisseelsorge erschienen. Es kann per Mail beim Verlag bestellt werden - verlag-gefaengnisseelsorge@bluewin.ch - oder im Buchhandel bezogen werden: ISBN-Nummer 978-3-9525955-3-4