Werl. Gefängnisseelsorger Rolf Stieber weiß, wie sich Menschen fühlen, die nach Kontaktbeschränkungen ins Leben zurückkehren, und wie wichtig Nähe ist.
Er hatte handschriftlich auf einer langen Einkaufsliste festgehalten, was er alles besorgen wollte. Der „Westenhellweg“, die Fußgängerzone in Dortmund, war sein Ziel. Bei einer Ausführung mit zwei Bediensteten der Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl und dem Gefängnisseelsorger wollte der Langzeit-Inhaftierte endlich mal wieder das pulsierende Leben spüren.
„Nach der Hälfte der veranschlagten Zeit“, erinnert sich Gefängnisseelsorger Dr. Rolf Stieber, „sagte der Mann auf einmal: ,Lass uns nach Hause fahren‘.“ Er meinte die Haftanstalt im Kreis Soest. „Die Menschenmassen, die Fülle an Eindrücken und Geräuschen, die er lange Zeit nicht erlebt hatte, haben ihn überfordert. Man muss sich erst wieder daran gewöhnen.“
Seit 24 Jahren Gefängnisseelsorger in Werl
Eine Erfahrung, die auch Nicht-Inhaftierte gemacht haben, die nach vielen Monaten der Pandemie wieder ein einigermaßen normales Leben lernen mussten und zum Teil bis heute noch lernen müssen.
Der evangelische Pfarrer Rolf Stieber ist seit 24 Jahren Gefängnisseelsorger in der JVA Werl, eine der größten Haftanstalten in Deutschland. Wenn er über Inhaftierte spricht, sagt er „Männer“.
In der Kapelle „St. Peter in Ketten“, die als eine der schönsten Gefängniskirchen im Land gilt, feiert er Gottesdienste mit seinen „Männern“ und hält die Tür immer offen für die, die einfach mal reden wollen. Zum Beispiel darüber, wie nach einer Haftentlassung die Rückkehr ins Leben, in die Gesellschaft gelingen kann.
Denn das ist auch ein großes Thema in der Pandemie geworden. Nachdem die Corona-Regeln zwischenzeitlich gelockert wurden, kamen die Menschen wieder mehr mit anderen in Kontakt und erlebten Nähe. Der eine fand sich besser in der neuen alten Normalität zurecht, der andere weniger.
Zwei Personen in einem großen Raum
Das Gespräch mit Rolf Stieber soll in einem Bäckerei-Café in Werl stattfinden. Das hat aber am späten Nachmittag, zum verabredeten Zeitpunkt, bereits geschlossen. Wegen Personalmangels, wie an der Eingangstür zu lesen ist.
Das Café befindet sich in einem großen Verkaufsraum zusammen mit einer Metzgerei-Filiale. Die freundlichen Mitarbeiterinnen lassen die beiden Gäste an einem der sonst stark frequentierten, aber jetzt verwaisten Café-Tische Platz nehmen.
“War mir zunächst unheimlich“
Damit sitzen ganze zwei Personen in einem großen Raum. Ansonsten gähnende Leere bei einem Gespräch über die neue Lust auf Begegnung. Man fühlt sich an den Lockdown erinnert.
Pfarrer Stieber erzählt von seinem Urlaub in Dänemark, zu einem Zeitpunkt, als dort die Corona-Regeln weitaus mehr gelockert waren als hierzulande. „Masken interessierten kaum noch einen, die Menschen kamen scheinbar ungezwungen zusammen. Es war mir zunächst unheimlich“, sagt Rolf Stieber und denkt an seine „Männer“: „Wie verunsichert müssen die sich fühlen, wenn sie nach langer Haft wieder den Schritt in größere Menschenansammlungen wagen?“
Wie ein offener Vollzug
Die Erfahrungen, die die Bundesbürger während des Lockdowns, für eine überschaubare Zeit, machen mussten, machen Gefangene und deren Angehörige über Jahre oder Jahrzehnte, sagt Rolf Stieber: „Durch die Kontaktverbote fehlten elementarste menschliche Regungen wie Umarmungen oder Küsse. Enkelkinder konnten nicht auf den Arm genommen werden, Bewohner von Seniorenheimen durften gar nicht oder nur unter fast unmöglichen Bedingungen besucht werden.“
Wenn man so wolle, ergänzt der 62-Jährige, war die Zeit für Menschen in Freiheit wie ein „offener Vollzug“: „Die Gefangenen hatten uns die Erfahrung voraus, dass viele Dinge im Leben brüchiger sind, als man denkt. Dass von jetzt auf gleich nichts mehr so ist wie vorher.“
„Leidenschaftlicher Händegeber“
Rolf Stieber bezeichnet sich selbst als „leidenschaftlichen Händegeber“: „Als ich 17 war und einem anderen in meiner Jugendgruppe die Hand gab“, erzählt er, „schaute der mich traurig an und sagte, dass ich der einzige sei, der ihm so respektvoll begegne.“
Seit diesem „einschneidenden Erlebnis“ ist der Händedruck für den Pfarrer zum Alltags-Ritual geworden, das er auch auf dem JVA-Gelände gegenüber Inhaftierten praktiziert. Bis zur Pandemie. Seitdem ist die Ghetto-Faust angesagt, „die Sparversion des Händedrucks“, wie Stieber lächelt. Auch diese kann Nähe zu Menschen herstellen.
Einsamkeit sichtbarer geworden
Eine Nähe, die so manchem Bundesbürger schon vor Corona abhandengekommen ist. Während der Pandemie ist das Thema Einsamkeit hochgekocht. „Das Problem gab es vorher schon“, sagt Stieber, „es ist jetzt nur sichtbarer geworden.“
Der Gefängnisseelsorger weiß aus seiner Arbeit in einer JVA, dass Menschen in einem Zustand der Isolation Kommunikation und Nähe verlernen können. Auch vor diesem Hintergrund war und ist die Pandemie für viele eine belastende Zeit. „Es hört sich banal an“, sagt Stieber, „alleine kommt man da nicht raus. Es geht nur über tragfähige Beziehungen. Man muss jemanden haben, mit dem man reden kann.“
Zunächst Probleme mit Menschenansammlungen
Man denkt auf einmal an die Menschen, die von sich erzählen, in der Pandemie eine Sozialphobie entwickelt zu haben. Die erfahren haben, dass Kontaktvermeidung größtmögliche Sicherheit bedeutet hat, und sich jetzt schwer damit tun, die Kurve zu Menschenansammlungen zu kriegen.
Was ist zu tun? „Man sollte den Weg zurück ins Leben dosiert starten, sich langsam an die neue Freiheit herantasten“, sagt Rolf Stieber, „das Gefühl von verlorener Zeit verschwindet nicht, wenn man gleich von 0 auf 100 beschleunigt.“