Hagen. Viele Augenzeugen müssen die Lkw-Irrfahrt mit 19 Verletzen mitverfolgen: Die dramatischen Stunden auf der A 1 und die offenen Fragen.
„Dann kam auf einmal der Lkw“. Morten Hämmerle ist auch Stunden später noch sichtlich beeindruckt. Beeindruckt von dem, was ihm und seinen vier Freunden am späten Samstagnachmittag auf der Autobahn widerfahren ist. „Der kam ganz dicht an uns ran und hat uns dann gestreift. Die Tür ist kaputt, der Spiegel ist kaputt.“ Erst hätten sie gedacht, es habe sich um einen normalen Unfall gehandelt. „Dann ist der Lkw weitergefahren, hat noch fünf andere Autos mitgenommen und ist quer auf der Fahrbahn stehengeblieben.“ Die Polizei sei direkt dazu gekommen. „Fünf, sechs Wagen, und oben war der Hubschrauber.“
Sein Kumpel Tom Woyat ergänzt: „Er hatte die Mittelleitplanke durchbrochen und ist in den Gegenverkehr gefahren. Es sah erst aus, als würde der Lkw umkippen. Dann rammte er mehrere Autos und kam zum Stehen.“ Im Wagen vor ihnen habe eine Familie gesessen. Von Rettungskräften sei sie fortgebracht worden, sagt Tom.
19 Verletzte - einer schwebt in Lebensgefahr
Morten Hämmerle und Tom Woyat sind zwei der in Summe wohl Hunderte Augenzeugen, die am Samstag die folgenschwere Irrfahrt eines 30-jährigen Lkw-Fahrers miterleben mussten. Von Neuss bis Hagen reichte die über gut 60 Kilometer andauernde Fahrt auf den Autobahnen A 46 und A 1. 19 Verletzte zählt die Polizei am Sonntag, acht davon schwer, einer schwebt sogar in Lebensgefahr.
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Morten und Tom waren mit drei weiteren Freunden - allesamt Fans von Hannover 96 - beim Auswärtsspiel in Köln. Nun stehen sie hier in der Nähe der Abfahrt Hagen-West und warten darauf, dass sie unter Polizeibegleitung umkehren und weiterfahren dürfen. Der schwarze SUV, den Tom Woyat von seinem Vater geliehen hat, wäre immerhin noch fahrbereit. Doch die Polizisten vor Ort warten auf die Order aus dem NRW-Innenministerium, dass sie die Beteiligten ziehen lassen dürfen.
Aber die Lage ist jetzt, gegen 20.15 Uhr, noch immer unklar. Dafür steht auch geradezu sinnbildlich die chaotische Unfallstelle: Der schwarze Mercedes-Lkw mit Auflieger steht komplett quer über dreieinhalb Spuren auf der Autobahn 1, 300 Meter vor der Abfahrt Hagen-West in Richtung Norden. Rundherum ein Trümmerfeld: Ein perlmuttweißer BMW mit eingedrückter Motorhaube und offener Heckklappe. Ein lila Band hält einen Reisekoffer zusammen, der auf der Fahrbahn liegt. Mehrere weitere schwer deformierte Pkw stehen herum.
„Der kam ganz dicht an uns ran und hat uns dann gestreift. Die Tür ist kaputt, der Spiegel ist kaputt.“
Um 16.25 Uhr am Samstag soll die Irrfahrt begonnen haben. Im Raum Neuss, so die ersten Meldungen, die bei der Polizei eingehen, soll sich ein Lkw auf der A 46 höchst auffällig fortbewegt haben. Die Autobahnpolizei rückt aus, doch es ist den Beamten unmöglich, den 40-Tonner zu stoppen. Der Fahrer reagiert nicht auf die Stopp-Signale, ihn gewaltsam mit Straßensperren zu stoppen, sei bei einem Lkw in voller Fahrt schlicht unmöglich, sagt ein Polizeisprecher: „Selbst wenn wir schweres Gerät wie Baumaschinen in den Weg stellen wollten, wären wir bei so einer dynamischen Lage ja gar nicht schnell genug.“
Per Radio wird gewarnt: Alle sollen die Autobahn verlassen
Per Verkehrsfunk verbreitet die Polizei eine in der Form äußerst ungewöhnliche Aufforderung: Alle Verkehrsteilnehmer sollten die Autobahnen verlassen. Doch dieser Appell erreicht nicht alle, oder erreicht die Fahrer zu spät. Schon am frühen Abend geht die Polizei davon aus, dass 50 Fahrzeuge bei der Irrfahrt beschädigt wurden. Eine endgültige Bilanz steht noch aus. Bis zum Kreuz Wuppertal-Nord verfolgen die Beamten den Lkw, dann weiter auf die A 1 in Richtung Dortmund/Bremen: „Der Lkw ist einfach nur geradeaus gefahren. Immer geradeaus. Egal was vor ihm war, das hat er einfach gerammt“, schildert ein weiterer Augenzeuge die dramatischen Szenen.
Erst in einer Baustelle auf der A1 in Hagen endet gegen 17.20 Uhr die Fahrt. An der Stelle sind die Fahrspuren in beide Richtungen verengt und nur durch eine Barriere voneinander getrennt. Diese Barriere durchbricht der 30-Jährige mit seinem 40-Tonner und gerät so in den Gegenverkehr. Weitere Pkw werden zerstört.
Auch wenn der Lkw-Fahrer sich auf der 60 Kilometer langen Irrfahrt nicht von der Polizei hat stoppen lassen: Bei der Festnahme leistet der 30-Jährige keinerlei Widerstand. Augenzeugen berichten, dass er betrunken gewirkt habe. Noch am Abend teilt die Polizei mit, dass man genau das nun prüfen werde: Die möglichen Auswirkungen von Alkohol- und Drogenkonsum.
In einer psychiatrischen Klinik untergebracht
Das ist auch am Sonntag noch der Stand, doch mehr und mehr verdichten sich die Zeichen, dass der 30-Jährige unter einer psychischen Erkrankung leiden könnte. Das bestätigte am Sonntagabend auch der Hagener Rechtsanwalt David Lakwa, der den 30-jährigen Polen vertritt, gegenüber der WESTFALENPOST. Er hatte ihn zum Termin beim Haftrichter begleitet. „Mein Mandant hat keine Angaben bei dem Richter gemacht. Er wirkte sehr verwirrt.“ Der Lkw-Fahrer wurde in die psychiatrische Klinik in Lippstadt-Eickelborn eingewiesen. „Ich gehe davon aus, dass mein Mandant eine akute Psychose hatte“, sagt der Anwalt. Der 30-Jährige lebe in Polen, sei Berufskraftfahrer und habe zumindest im deutschen Bundeszentralregister keine Vorbelastungen.
Das, was am Samstag angesichts der dramatischen Bilder zumindest im Raum stand: eine Amokfahrt oder gar ein terroristischer Anschlag – das wird in Ermittlerkreise nahezu ausgeschlossen. „Es ist wohl ein großer und dramatischer Verkehrsunfall“, so ein Ermittler.
Was über den Unglücksfahrer bekannt ist
Was weiß man sonst über den Unglücksfahrer? Bislang noch wenig. Er ist polnischer Staatsbürger, wo er lebt, dazu kann die zuständige Polizei in Düsseldorf nichts sagen. Offensichtlich war der 30-Jährige bislang bei den deutschen Behörden noch nicht auffällig geworden. Wo der Startpunkt seiner Fahrt war und welches Ziel er hatte - auch dazu kann die Polizei bislang noch keine gesicherten Angaben machen. Er soll Stückgut geladen haben, der 40-Tonner-Lkw soll zu einer polnischen Spedition gehören. Gegenüber den Ermittlern hat sich der 30-Jährige zwar kurz eingelassen. Zu den Inhalten will die Polizei aber noch nichts sagen.
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Derweil liegen noch mehrere Opfer der Irrfahrt in Krankenhäusern. Woher die Menschen kommen? Wie alt sie sind? Ob auch Kinder betroffen sind? Zu all dem konnte die Polizeipressestelle am Sonntag noch nichts sagen. Und vor allem ist unklar, ob sich schon alle Betroffenen bei der Polizei gemeldet haben. So ist aus Ermittlerkreisen von einem Fall zu hören, in dem Unfallopfer selbstständig die Autobahn verlassen hatten und ins Krankenhaus gefahren waren. Mehr zufällig trafen Beamte sie dort an, weil sie andere Unfallteilnehmer befragen wollten. Unter nrw.hinweisportal.de ist zudem eine Internetseite geschaltet, auf der sich Zeugen und Betroffene melden können.
Erst am Sonntagmittag ist die Autobahn wieder frei
Auf der Autobahn A 1 sind die Folgen der Lkw-Irrfahrt am Sonntagmittag beseitigt. Die Straßenmeisterei hat die Barriere zwischen den Fahrbahnen repariert, über mehre Kilometer sind die Fahrbahnen gereinigt worden. Die Autobahn ist um 12 Uhr in beide Richtungen wieder freigegeben. Bis die materiellen und vor allem menschlichen Folgen dieser Irrfahrt aufgearbeitet sein werden, wird es ungleich länger dauern.