Paderborn/Velmede/Essen. Auch Adveniat im Blick: Betroffene beschuldigen Kardinal Hengsbach des Missbrauchs. Eine Untersuchung will das Dunkelfeld erhellen.
Die Nachricht löste geradezu ungläubiges Entsetzen aus. Vor einem Jahr veröffentlichten das Erzbistum Paderborn und das Bistum Essen zeitgleich Missbrauchsvorwürfe gegen Kardinal Franz Hengsbach und seinen Bruder, den Priester Paul Hengsbach. Dazu gab es einen Aufruf mit der Bitte an weitere Betroffene und Zeugen, sich zu melden. Nun ist eine unabhängige Aufarbeitungsstudie in Arbeit, die Details sollen am 21. Oktober vorgestellt werden. Bereits jetzt lässt sich sagen: Die Vorwürfe gegen die Hengsbachs erweisen sich nicht als isoliert. Das vermutete Dunkelfeld hat sich demnach bestätigt. Nach ihrer Veröffentlichung haben sich weitere Betroffene gemeldet, so Paderborn und Essen gestern. Damit ist Hengsbach der erste Kardinal, der nicht nur als Mitwisser, sondern auch als Täter in mehreren Fällen beschuldigt wird.
„Die Beschuldigungen beziehen sich zum einen auf Hengsbachs Amtszeit im Bistum Essen (1958-1990), zum anderen auf seine Zeit im Erzbistum Paderborn (bis 1958). Ins Blickfeld rücken ebenso die Bischöfliche Aktion Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, dessen erster Vorsitzender Kardinal Hengsbach von dessen Gründung 1961 an bis 1988 war, seine Tätigkeit als Militärbischof (1961-1978) sowie seine Rolle im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK, 1947-1968)“, heißt es in einer Mitteilung der Bistümer am Mittwoch. Diese fünf Institutionen haben das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vorwürfe gegen den Kardinal beauftragt.
- Kardinal Hengsbach: Betroffene lässt sich nicht abwimmeln
- Kardinal Hengsbach auch? Wer noch?
- Hengsbach-Skandal: Ruhrbischof bittet Gläubige um Entschuldigung
Der Fall Hengsbach zeigt exemplarisch, wie schwierig die Aufarbeitung von Missbrauchstaten ist. Denn Betroffene melden sich in der Regel erst dann, wenn über die mutmaßlichen Täter öffentlich berichtet wird. Davor zögern aber viele Kircheneinrichtungen, wenn die Fälle lange zurückliegen und/oder die Täter eine gewisse Prominenz haben. So entstehen Teufelskreise der Vertuschung. Im Fall Hengsbach kommt hinzu, dass eine Betroffene sich bereits früh gemeldet hat, ihr aber nicht geglaubt wurde, weil es undenkbar schien, dass der überaus beliebte Kardinal aus Velmede im Sauerland, der als Ruhrbischof große Berühmtheit erlangte, Frauen vergewaltigt haben könnte.
Exemplarisches Versagen
Beide Brüder Hengsbach sollen im Jahr 1954 gemeinschaftlich eine damals 16-Jährige missbraucht haben. Gegen Franz Hengsbach, den Kardinal, lagen 2023 bereits zwei Vorwürfe aus Essen und einer aus Paderborn vor; gegen Paul Hengsbach zwei Vorwürfe aus Paderborn. Bereits im Jahr 2011 hatte die Betroffene von 1954 die Beschuldigungen an das Erzbistum Paderborn gemeldet. Kardinal Franz Hengsbach war im Jahr 1991 gestorben; sein jüngerer Bruder, der Diözesanpriester Paul Hengsbach, bestritt im Juli 2011 bei einer Befragung im Generalvikariat die Vorwürfe „vehement“, so das Erzbistum.
„Die Beschuldigungen wurden aufgrund der Gesamtumstände im Ergebnis als nicht plausibel bewertet, wenngleich angemerkt wurde, dass sich die mutmaßliche Betroffene an die äußeren Umstände genau erinnere“, heißt es in der Mitteilung der beiden Bistümer aus 2023. Der Fall ging nach Rom an die Kongregation für Glaubenslehre, und die entschied, aufgrund des zur mutmaßlichen Tatzeit geltenden Strafrechts kein Strafverfahren einzuleiten. Das Erzbistum leitete den Antrag auf Anerkennung des Leids der Betroffenen nicht an die zentrale Koordinierungsstelle bei der Deutschen Bischofskonferenz weiter. Der Sachstand wurde dem Essener Bischof Franz-Josef Overbeck mitgeteilt.
Paderborn räumt schweren Fehler ein
Das Erzbistum Paderborn bewertete dieses Vorgehen vor einem Jahr als schweren Fehler. Denn nach der Aktenlage hatte bereits 2010 eine weitere Frau Missbrauchsvorwürfe gegen Paul Hengsbach erhoben, die dieser ebenfalls bestritten habe. Man hatte die Akten nicht im Gesamtzusammenhang geprüft und die Fälle nicht verknüpft. In Sachen der Anklägerin von 2010 wurde nichts unternommen. Die Frau nahm das jedoch nicht hin und beschwerte sich. Erst dies führte zu einer erneuten Überprüfung.
Das Erzbistum gab sich selbstkritisch: „Wären die beiden Paul Hengsbach betreffenden Beschuldigungen seinerzeit miteinander verknüpft betrachtet worden, hätte dies möglicherweise zu einer anderen Bewertung der Vorwürfe im Sinne der beiden betroffenen Frauen geführt. So liegt es aus heutiger Sicht nahe, dass den Frauen nicht nur Unrecht durch die Missbrauchserfahrung durch Diözesanpriester des Erzbistums, sondern auch Leid durch den Umgang mit ihnen und ihren berechtigten Anliegen widerfahren ist.“
Neu aufgerollt wurden die Fälle, als das Bistum Essen im März 2023 um die Einsicht in den Personalaktenbestand von Franz Hengsbach aus der Paderborner Zeit bat. Der Essener Interventionsstab untersuchte zwei Missbrauchsvorwürfe gegen Hengsbach aus dessen Zeit als Gründungsbischof des Ruhrbistums.
Im Bistum Essen löste die Nachricht, dass der volksnahe Ruhrbischof ein Missbrauchstäter sein solle, Schockwellen des Entsetzens aus. Viele Katholiken reagierten aggressiv. Das Hengsbach-Denkmal am Essener Dom wurde abgebaut, mehrere Ruhrgebietsstädte benannten nach Hengsbach benannte Straßen und Plätze um.
Unterdessen wurde bekannt, dass auch gegen den Onkel der Priesterbrüder aus dem Sauerland Missbrauchsvorwürfe erhoben wurden. Der Priester Joseph Hengsbach soll in den Jahren 1906 und 1907 als Kaplan in Sandebeck (Kreis Höxter) übergriffig gegen Schulmädchen gewesen sein und wurde anschließend steckbrieflich gesucht, nachdem er nicht mehr auffindbar war. Er habe sich der staatsanwaltlichen Verfolgung 1908 durch Flucht in die USA entzogen, wo er weiter als Pfarrer tätig war, möglicherweise auf Vermittlung des Erzbistums Paderborn. Die Familie Hengsbach soll die Flucht finanziell ermöglicht haben. Hans-Jürgen Rade, Leiter des Kirchlichen Gerichts im Erzbistum Paderborn, hatte darüber im Jahrbuch 2022 für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte berichtet.