Hagen. 2600 Schulkinder aus der Ukraine sind in Südwestfalen registriert. Warum das nur die Spitze des Eisbergs ist und was das für die Städte heißt.

Schlaflose Nächte bereitet Michael Pütz die Lage nicht direkt. Dazu ist er als Leiter eines Gymnasiums im migrationsgeprägten Hagen zu viel gewohnt aus den vergangenen Jahren. Trotzdem blickt er wie viele Kolleginnen und Kollegen nicht nur in Südwestfalen, sondern in ganz Deutschland in eine ungewisse Zukunft. „Wir warten auf die Welle, die da jetzt kommt. Es wird schwer, weil alle Schulen schon voll sind.“ Vor allem die Hagener.

Noch immer kommen täglich Menschen aus der Ukraine auch in Südwestfalen an, viele Mütter mit ihren bisweilen schulpflichtigen Kindern. Wie viele? Die Bezirksregierung Arnsberg konnte dazu in der vergangenen Woche noch nichts Genaues sagen. Über die Städte und Kreise hat diese RedaktionZahlen zusammengetragen, um ein erstes grobes Bild zu gewinnen: Knapp 2600 schulpflichtige Kinder sind am Ende der vergangenen Woche in den Behörden erfasst, aber nur gut 1000 verlässlich auf die Schulen verteilt.

Zahlen liegen tatsächlich höher

Die tatsächliche Zahl der schulpflichtigen Kinder dürfte um einiges höher liegen, denn Flüchtende aus der Ukraine können sich 90 Tage lang in Deutschland aufhalten, ohne sich registrieren zu müssen. Viele von ihnen dürften hoffen, möglichst bald wieder in die vom Krieg geplagte Heimat zu können. Aber wenn sich diese Hoffnung nicht so schnell erfüllt?

+++ 6000 Kinder aus der Ukraine an NRW-Schulen aufgenommen +++

Selbst die offiziellen Zahlen sind groß genug, dass sie zur immensen Herausforderung für Behörden, Schulen und Lehrer werden.

Raumnot und hohe Schülerzahl: Hagen erwartet „eine sehr große Herausforderung“

Beispiel Hagen: Von den rund 350 registrierten schulpflichtigen Kindern sind erst 69 einer Schule zugewiesen. „Ukrainische Kinder, die bereits eine Schule in Hagen besuchen, sind bisher leider noch Einzelfälle“, heißt es von der Stadt auf Nachfrage: „Aufgrund des großen Anstiegs der Schülerzahlen in Hagen bereits im Vorfeld der Zuwanderung aus der Ukraine stellt die Beschulung eine sehr große Herausforderung dar.“ Die Schülerzahlen aller Jahrgänge wurden bereits genau erfasst, „um feststellen zu können, wie viele Kinder in bestehende Klassen integriert werden können“. Es liefen zudem Abstimmungen mit der Bezirksregierung, um mögliche Klassengrößen festzulegen und alternative Möglichkeiten der Beschulung zu klären. Aber: „Die Herrichtung von Räumlichkeiten einschließlich der Ausstattung gestaltet sich aufgrund der vorherrschenden Raumnot als schwierig.“

Schulleiter Michael Pütz vom Christian-Rohlfs-Gymnasium in Hagen: „Es wird schwer, weil alle Schulen schon voll sind.“
Schulleiter Michael Pütz vom Christian-Rohlfs-Gymnasium in Hagen: „Es wird schwer, weil alle Schulen schon voll sind.“ © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Beispiel Märkischer Kreis: 557 Kinder und Jugendliche sind als schulpflichtig erfasst. Wie viele bereits auf Schulen verteilt sind, kann der Kreis nicht sagen, wohl aber, dass sich die Situation stündlich ändere. Fakt ist: Die Zahl (557) entspricht dem, was der Kreis sonst in einem ganzen Jahr an zugewanderten Schülern aufnimmt. In Addition sind das immense Zahlen.

Bedarf dürfte nach den Osterferien deutlich steigen

Beispiel: Hochsauerlandkreis. Dort sind fast alle der 357 Sechs- bis Achtzehnjährigen schon einer Schule zugewiesen. Kreissprecher Martin Reuther sagt mit dem Blick auf die Zukunft: „Das wird eine Mammutaufgabe.“ Denn vermutlich haben viele auch etwas Zeit gebraucht, um anzukommen.

Deswegen geht die Bezirksregierung in Arnsberg, die obere Schulaufsichtsbehörde, davon aus, dass nach den Osterferien die Anmeldequoten und damit der Bedarf an Schulplätzen spürbar steigen werden. In der Flüchtlingswelle von 2015 habe man wertvolle Erfahrungen sammeln können, die den Behörden nun zugute kämen, sagt Sprecher Christoph Söbbeler. Doch die Situation derzeit habe eine ganz andere Dimension: „Die Geschwindigkeit, in der sich der Zulauf vollzieht, ist viel höher.“

Klassengrößen sind das Problem

Michael Pütz, der Leiter des Christian-Rohlfs-Gymnasiums in Hagen und gleichzeitig Sprecher der Hagener Gymnasien, lässt keinen Zweifel daran, dass die Schulen Lösungen suchen und finden werden, dass Lehrerinnen und Lehrer in der Notlage alles unternähmen, um jedem Kind Schule zu ermöglichen.

Ein ukrainisches Kind sitzt am Christian-Rohlfs-Gymnasium, das rund 800 Schülerinnen und Schüler beherbergt, erst im Unterricht. Die Schule hat sich bereiterklärt, zeitnah rund 20 weitere Schülerinnen und Schüler aufzunehmen. Das geht, indem eine dritte internationale Förderklasse aufgemacht wird. Dort sitzen Zuwandererkinder, die vornehmlich – zwölf Stunden pro Woche – Deutsch lernen.

Die Kinder aus diesen Klassen werden in Stunden wie Kunst, Musik und Sport auf die bereits bestehenden Klassen verteilt. Allerdings: Bei 30 Schülern ist die Grenze erreicht. Deshalb muss genau geschaut werden, in welcher Klasse wie viel Platz ist. Das macht es so schwer. Oder wie Pütz sagt: „Das ist das Nadelöhr.“

<<< HINTERGRUND >>>

Das Statistische Landesamt kennt Zahlen zu Schülern an allgemeinbildenden Schulen im laufenden Schuljahr. In Hagen waren es im Herbst 21.785 Schüler, im Ennepe-Ruhr-Kreis 31.310, im Hochsauerlandkreis 25.975, im Märkischen Kreis 42.510, im Kreis Olpe 15.140, im Kreis Siegen-Wittgenstein 29.780, im Kreis Soest 33.630.

Genau 6.167 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine wurden bis Ende März an 1650 Schulen in Nordrhein-Westfalen aufgenommen, teilte das NRW-Schulministerium Mitte vergangener Woche mit. Das Schulministerium in NRW wirbt längst um Ruheständler, Teilzeitler und Lehramtsstudierende, um den Personalmangel auffangen zu können.