Hagen. Von Ecstasy bis Heroin war alles im Netz bestellbar: Wie Ermittler in Hagen eine Plattform lahmlegten – dank eines „SMS-Diensts für Kriminelle“.
Mengenrabatt? Na klar! Ab 5 Gramm kostet das Gramm 1,60 Euro, ab einem Kilo ist das Gramm dagegen schon für 80 Cent zu haben. Verschickt wird die Ware dann klassisch per Post/DHL. Eine Orientierung geben natürlich zuvor die Bewertungen der anderen Kunden: Drei von vier Nutzern empfehlen das Produkt, ist zu lesen. Und dann gibt es auch noch die persönlichen Beurteilungen. Der User „140th wulor“ schreibt etwa: „Wer klassische Amphetamine mag, ist hier gut beraten.“
Amphetamine? Spätestens hier wird klar: Der Online-Shop „derdeutsche.co“ hat zwar viele Elemente, die eine klassische Internet-Verkaufsplattform aufweist, aber die Ware ist kriminell. Eine Art „E-Bay für den Drogenhandel“ hatte sich hier entwickelt – von Hagen und Lüdenscheid aus organisiert. Und von Wuppertal aus wurden fein säuberlich verpackte Drogen-Umschläge in die gesamte Republik verschickt. Ob Ecstasy-Pillen („Barcelona blau/pink“), Kokain, Heroin oder Amphetamin-Paste 85 Prozent – bestellt werden konnten hier Drogen so leicht wie man anderswo eine Hose oder einen Fernseher im Netz ordert.
Drogen-Verkaufsseite im frei zugänglichen Internet
Nicht im ominösen Darknet, sondern im frei zugänglichen Internet war die Seite zu finden. Bis die Staatsanwaltschaft Hagen und das in Hagen ansässige und für weite Teile Südwestfalens zuständige Kommissariat für organisierte Kriminalität die Drahtzieher und Akteure der Drogen-Verkaufsplattform ermittelt hatte. Sie sind inzwischen zu langen Haftstrafen verurteilt worden.
Auf die Männer gekommen sind die Ermittler wiederum durch eine Art SMS-Dienst für Kriminelle. In deren Kreisen sehr beliebt war die Kommunikationsplattform „EncroChat“. Mit ihr konnten auf so genannte Krypto-Handys Nachrichten ausgetauscht werden. Verschlüsselt und damit vermeintlich 100-prozentig „abhörsicher“. Dachten viele Kriminelle zumindest. Doch französischen Ermittlern gelang es im vergangenen Jahr, die Verschlüsselung zu knacken, Nachrichten mitzulesen und sie zu sichern. Und zwar bevor die aus dem Untergrund agierenden EncroChat-Hintermänner all ihre Kunden anwiesen, mit einer bestimmten Tastenkombination alle Daten zu zerstören, nachdem sie bemerkt hatten: Die Polizei hat uns gehackt!
Schon fünf Verfahren finden vor dem Landgericht Hagen statt
Die Folge: Massenweise wurde Staatsanwaltschaften in ganz Europa Material zur Verfügung gestellt. Chats, in denen es um organisierte Kriminalität, schwere Straftaten oder Drogenkriminalität ging. In ganz Deutschland finden derzeit Verfahren aus dem „EncroChat“-Komplex statt. Aber so viele schon fertig ermittelte Verfahren wie bei der Staatsanwaltschaft Hagen gibt es nur selten.
„Wir sind relativ weit vorn“, sagt der zuständige Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli bescheiden. Und lobt vor allem die Ermittler des Kommissariats für organisierte Kriminalität in Hagen. Die hätten durch beharrliche kriminalistische Kleinarbeit erreicht, dass man die Chats und Taten tatsächlich bestimmten Personen habe zuweisen können. Fünf Verfahren mit insgesamt zwölf Angeklagten – unter anderem aus Hagen, Dortmund und Olpe – sind bereits vor dem Landgericht in Hagen gelandet, weitere können folgen. In zwei Verfahren gab es schon langjährige Haftstrafen, drei weitere laufen noch.
Komplizen verpacken die Drogen fein säuberlich
Auf die Schliche gekommen sind die Ermittler so etwa auch dem lange in Lüdenscheid und zuletzt in Hagen lebenden Angeklagten, der wohl maßgeblich hinter der Drogen-Verkaufsplattform „derdeutsche.co“ stand. Lange habe man den 39-Jährigen schon im Visier gehabt, so Oberstaatsanwalt Pauli. Aber erst durch die EncroChat-Ermittlungen habe man die ganzen Dimensionen erfassen können. Die Ermittler sind sich sicher, dass auf sein Betreiben hin mit den verschlüsselten EncroChat-Botschaften massenweise Drogen und Drogen-Zutaten aus den Niederlanden geordert wurden: Marihuana, Kokain oder Heroin, vor allem aber Amphetamine, mit denen Ecstasy-Tabletten oder das noch viel zerstörerische Crystal Meth hergestellt werden.
„Der Angeklagte hatte einen Komplizen gefunden, der sich in der Computerwelt auskannte und die Internetplattform aufgebaut hat“, so Oberstaatsanwalt Gerhard Pauli. Und für zwei weitere Komplizen mietete er laut Anklage in Wuppertal eigens eine Wohnung an, in der diese die Drogen fein säuberlich verpackten und anschließend auf den Postweg brachten. „Die haben als Nachweis fotografiert, wie sie Umschläge in die Postkästen werfen“, beschreibt Oberstaatsanwalt Pauli die Abläufe. So hatten die Kunden dann eine Sicherheit, dass die Drogen im Zweifel tatsächlich auf den Weg gebracht wurden. Die Lieferung erfolgte dann frei Haus mit dem nichts ahnenden Postboten – ohne dass man für den Drogenkonsum die Dealer-Szene in einer schmuddeligen Bahnhofszene besuchen musste.
LKA-Experten: Der Internethandel mit Drogen boomt
Im vergangenen Dezember war es dann vorbei mit dem florierenden Handel. Die Ermittler schlugen zu, nahmen den Hagener und weitere Komplizen fest. Inzwischen ist ein Großteil schon verurteilt, der geständige 39-Jährige muss gar für acht Jahre und zehn Monate ins Gefängnis. Er gab sich vor dem Urteil reumütig, betonte, dass er doch eigentlich Verantwortung als Vater für sein noch kleines Kind übernehmen wolle: „Ich möchte mich entschuldigen und von ganzem Herzen versprechen, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird.“
Dass so etwas sehr wohl weiter vorkommen wird, wenn auch vielleicht durch andere Akteure – dessen ist sich der Hagener Oberstaatsanwalt Gerhard Pauli sicher. Ja, die Ermittlungen seien ein großer Erfolg: „Aber wir wissen auch, dass das nur die Spitze des Eisbergs war.“ So sieht es auch das Landeskriminalamt NRW. In seinem jüngsten Lagebild zur Rauschgiftkriminalität wird exemplarisch etwa ein Fall aus Recklinghausen geschildert, wo allein einem Drogenhändler 12.000 Drogen-Briefsendungen zugeordnet werden konnten. „Die Verfügbarkeit von Rauschgift nimmt zu. Der illegale Internethandel boomt, nahezu alle Arten von Betäubungsmitteln werden zum weltweiten Versand angeboten“, so das ernüchternde Fazit der LKA-Experten. „Die Pandemie dürfte dieses Phänomen zusätzlich verstärkt haben.“
>> INFO: EncroChat führt auch zu Razzia bei Miri-Clan
- Bei der Staatsanwaltschaft Arnsberg sind bislang noch keine Verfahren aus dem EncroChat-Komplex anhängig. Von der Staatsanwaltschaft Siegen gab es bislang noch keine Antwort. In Dortmund spielten die durch die EncroChat-Protokolle gewonnenen Erkenntnisse offensichtlich eine große Rolle bei der Razzia gegen Mitglieder des Miri-Clans, denen Drogenhandel im großen Stil vorgeworfen wird.
- Aber dürfen die Informationen aus den in Frankreich sichergestellten Chats überhaupt in deutschen Gerichtsverfahren verwendet werden? Der Strafrechtler Ulrich Sommer, der auch in Hagen einen Mandaten vertritt, lehnt das ab und hat in zwei anderen Verfahren Verfassungsbeschwerde angekündigt. Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli sieht dagegen „keine grundsätzlichen Bedenken“.