Altena. Stricken ist out? Von wegen. In Altena boomt das Geschäft gewaltig, denn dort werden die Nadeln hergestellt – und in die ganze Welt geliefert.
Dass ihr Geschäft noch einmal so durch die Decke gehen würde, damit hatte Claudia Malcus nicht gerechnet. Denn Stricken, das macht doch keiner mehr – oder? „Von wegen“, sagt die 54-Jährige. Sie ist Inhaberin der Firma Gustav Selter in Altena, wo seit knapp 190 Jahren Strick- und Häkelnadeln produziert werden. Und bedient damit einen Markt, der nach Jahren der Talfahrt derzeit wieder einen echten Boom erlebt.
„Wir sind der letzte Hersteller, der in Europa als Vollsortimenter übrig geblieben ist“, sagt Claudia Malcus. 1986 seien es noch 14 gewesen, „doch dann kam der Einbruch. Stricken war Ende der 80er-Jahre plötzlich out, die Leute wollten Blusen und Blazer, keine Strickkleidung mehr. Der Markt war tot“.
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Auch für sie und ihren Mann Thomas Selter, der das Familiengeschäft bis 2020 in 6. Generation führte, begann damals eine zehn Jahre andauernde Talfahrt, die sie nur knapp überwunden haben, erzählt sie. Denn innerhalb von zwei Jahren sei der Markt um 80 Prozent seines Volumens eingebrochen. 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt Claudia Malcus heute, „an unserem tiefsten Punkt waren es nur noch 27“, erinnert sie sich. „Das waren sehr, sehr schwierige Zeiten. Alles, was wir hatten, wurde in diese Krise gesteckt. Sonst hätten wir es nicht geschafft.“
Stricknadeln für die ganze Welt
Heute sieht das ganz anders aus, die Nachfrage sei so enorm, dass sie ihre Stricknadeln aus Altena an Fachhändler in der ganzen Welt lieferten – zum Beispiel in Norwegen, Amerika, China und Russland. Immerhin sei Stricken inzwischen fast überall populär, sagt Malcus. 12 bis 16 Wochen Lieferzeit seien momentan Standard, gearbeitet werde in Zwei- und Drei-Schicht-Systemen, um der Menge an Aufträgen überhaupt gerecht werden zu können.
Doch die Vergangenheit habe Spuren hinterlassen. „Es läuft unheimlich gut, weil die Menschen in Krisenzeiten oft mehr Zeit Zuhause verbringen und die Handarbeit wieder für sich entdecken“, sagt Malcus. Zuletzt habe die Corona-Krise die Branche beflügelt, zuvor die Finanzkrise im Jahr 2008. Ihrem Geschäft spiele das natürlich in die Karten, „aber ich weiß auch, dass es wieder anders kommen kann“.
Zwar ist die Produktion des Altenaer Herstellers jetzt ausschließlich auf Strick- und Häkelnadeln ausgerichtet, für die Zukunft wollen sie sich aber weiterhin wappnen und seien bereit, auch neu zu denken. „Wir stellen uns zum Beispiel gerade digital noch besser auf“, sagt Malcus. Eine App mit Videos, Strickanleitung und Tipps rund um das Thema sei bereits auf dem Markt, bald auch auf englisch und wahrscheinlich russisch verfügbar. Nachgefragt sei das jedenfalls bereits jetzt. „Wir versuchen immer, ein Stück voraus zu sein“, sagt die 54-Jährige, denn die Konkurrenz in China und Indien schlafe nicht. „Es ist hart, gegen deren Niedrigpreise anzukommen, weil wir hier Mindestlöhne und Qualität bezahlen.“ An dem Produktionsstandort Altena wolle sie aber unbedingt weiter festhalten, „das ist uns sehr wichtig“.
Vom Drahtzieher zur Häkelnadel
Gegründet hat den im Jahr 1829 Peter-Heinrich Selter, ein Vorfahre ihres Mannes. „Der war eigentlich Landwirt im Sauerland, konnte dort aber nicht genug Geld verdienen und ist deshalb Drahtzieher in Altena geworden“, erzählt die 54-Jährige. „Was genau seine Motivation war, Häkelnadeln zu produzieren, wissen wir nicht. Wir sagen immer lächelnd, dass er sich wahrscheinlich etwas von dem Draht zur Seite gelegt hat.“
Sicher sei allerdings, dass schon damals der erste Export stattgefunden hat, lange vor der Globalisierung: „Die Ur-ur-ur-Großmutter meines Mannes brachte die hergestellten Nadeln in einer Kiepe auf dem Rücken über den Drahthandelsweg nach Iserlohn zu Exporteuren, die sie dann weiterverkauft haben. Und schon um 1900 rum hatten sie etwa 200 verschiedene Sorten Nadeln im Angebot, mit verschiedensten Griffen und Materialien.“ Heute sind es rund 1300 Katalogartikel, die angeboten werden, ungefähr 45.000 Nadeln werden täglich in Altena produziert. Und das zu einem großen Teil noch immer in Handarbeit. Nadel für Nadel polieren, kleben und stecken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Altena zusammen, jedes Material – ob Holz oder Metall – wird dabei speziell bedacht und behandelt.
Popularität übers Internet
Und mit der Zeit haben sie die Stricknadeln auch weiterentwickelt – was der Firma den größten Aufschwung bescherte, sagt die Inhaberin. 2017 brachten sie ein Produkt heraus, das das Stricken von Socken erleichtern soll. „Wir haben dann Bloggerinnen eingeladen, die im Internet einen Post veröffentlicht haben.“ Daraufhin schoss die Auftragslage in die Höhe. „Vier Wochen später waren wir damit quasi völlig überfordert, wir hatten eine Lieferzeit von 30 Wochen und haben anderthalb Jahre durchgehend in drei Schichten gearbeitet.“ Inzwischen habe sich das zwar wieder beruhigt, „aber es läuft noch immer wahnsinnig gut“. Wie gut genau, das will Claudia Malcus allerdings nicht verraten.
>>HINTERGRUND<<
Nicht immer hat die Gustav Selter GmbH in Altena nur Strick- und Häkelnadeln produziert: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte das Unternehmen auch auf Schraubenzieher-Klingen, erst seit 2018 nicht mehr.
Das Kerngeschäft Stricken hat auch einen eigenen Namen: „addi“, benannt nach dem Spitznamen des Inhabers in 5. Generation.