Meinerzhagen. Dirk Michgehl war über Jahre kriminell. Als sein Sohn zum Mitinsassen im Gefängnis wird, wandelt er sich. Heute hilft er in der Gewaltprävention.
Er hat schon häufiger gehört, dass er sich vom Saulus zum Paulus gewandelt habe. Dirk Michgehl will davon nichts wissen: „Ich war 32 Jahre kriminell und habe Gewalt als Normalität erlebt“, sagt der 53 Jahre alte Sauerländer, der als Präsident eines Rockerclubs im Drogenhandel verstrickt war. Man werde nicht plötzlich ein Heiliger, auch wenn man dem alten Leben abgeschworen hat, sagt er. „Dass ich Probleme mit Gewalt habe, wird immer bleiben, aber ich kann damit umgehen, kann verhindern, dass sie ausbricht.“
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Dirk Michgehl sitzt vor seinem Haus irgendwo bei Meinerzhagen. Es steht mitten in der Natur, man hat einen weiten Blick über tausend Berge. „Früher hatte ich aus Sicherheitsgründen sieben Kameras am Haus“, sagt der stämmige Sauerländer, „heute steht die Eingangstür die meiste Zeit offen.“ Er zeigt mit dem Finger in deren Richtung und lächelt.
Weite des Sauerlandes statt Enge hinter Gittern
Michgehl nimmt häufig auf der Sitzbank vor der Hauswand Platz und kann sich nicht sattsehen an der Weite. An der frischen Luft inhaliert er, wenn man so will, Freiheit. Ein ganz anderes Gefühl als im Knast. Fünfeinhalb Jahre hat er wegen bewaffneten Drogenhandels in westfälischen Gefängnissen gesessen. „Ich genieße nach meiner Haft die Ruhe des Sauerlandes. Wissen Sie, wie das ist, wenn sie ständig Schlüsselgeklimper und Schreie hören?“
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Das Leben hinter Gittern ist eben kein Pappenstiel. Der romantische Blick in Fernseh-Serien ist nicht die Realität. Das vermittelt „Jumbo“ – so wird Michgehl „gefühlt eine Ewigkeit“ genannt – als Projektkoordinator NRW des gemeinnützigen Vereins „Gefangene helfen Jugendlichen“, der Jugend-Kriminalitätsprävention unter anderem in Schulen betreibt. „Ich will junge Leute davon abhalten, den gleichen Scheiß wie ich zu machen.“
Mit 13 Jahren der erste Diebstahl
Auf den Veranstaltungen erzählt der Dozent für Gewalt- und Suchtprävention aus seiner Kindheit, die er überwiegend in der Kneipe seiner gewalttätigen Eltern verbracht hat. Dort traf er zwielichtige Typen und lernte, dass kriminelles Handeln nichts Besonderes sei, wie er sagt. Mit 13 machte er seinen ersten Diebstahl und rauchte die erste Hasch-Zigarette, mit 17 konsumierte er „harte Drogen“. Es folgte „alles, was das Strafgesetzbuch hergibt – außer Prostitution.“ Mit 45, im Jahr 2011, wurde er inhaftiert. „Ich hatte meine Knasttasche immer gepackt, bin einer Festnahme oft von der Schippe gesprungen. Es wäre besser gewesen, wenn das früher passiert wäre. Dann hätte ich früher Wendepunkte erlebt.“
Der erste Wendepunkt war in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hagen: „Ich kam in den Behandlungsvollzug. Dort lernte ich mich selbst kennen, entdeckte meine Talente und lernte unter Schwerverbrechern, dass man Konflikte auch friedlich lösen kann, dem Anderen nicht sofort in die Fresse schlagen muss.“ Im Laufe seiner Gefängnisaufenthalte machte sich die Selbsterkenntnis breit, dass er auch „andere Sachen als Gewalt“ könne und dass Drogenhandel keinen Menschen glücklich mache. „Ich habe viele ins Verderben gestürzt. Genau genommen war ich nicht besser als ein Mörder.“ Eine Initialzündung für Dirk Michgehl. Er wollte fortan „leben, ohne Opfer zu produzieren. Ein besseres Leben führen“.
Den Sohn im Gefängnis getroffen
Der größte Wendepunkt allerdings war eine Begegnung im offenen Vollzug in der JVA Attendorn. Plötzlich stand sein damals 25-jähriger Sohn vor ihm – als neuer Insasse. „Er war im Knast, weil er bei mir groß geworden ist. Er hatte gesehen, dass der Alte immer ein dickes Portemonnaie hatte, ohne sich zu bewegen. Er hatte als Kind erlebt, dass seine Mutter, meine Frau, an einer Überdosis Heroin gestorben war.“ Ein halbes Jahr verbrachten beide dort. „Wir haben über alles geredet.“ Längst führt der Sohn ein straffreies Leben.
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In der Haft bekam Dirk Michgehl Kontakt zu „Gefangene helfen Jugendliche“. „Ich habe durch den Verein Halt und eine Zukunftsperspektive bekommen.“ In der Woche, als er im Juli 2016 aus der Haft entlassen wurde, nahm der Verein ihn bereits mit zu einem Schulbesuch. Der ehemalige Häftling berichtet von seinen Besuchen in Schulen, wo seine Zuhörer zunächst von seinen Rocker- und Drogengeschichten gefesselt sind. „Aber schnell macht sich ein Aha-Effekt breit, wenn ich spiegele, dass einem eine Strafakte ein Leben lang verfolgt und was man seiner Familie mit einem Knastaufenthalt antut. Man hat immer die traurigen Kindergesichter vor Augen, wenn der Papa nach einem Besuch nicht mit nach Hause kommt.“ Und da sei die Hilflosigkeit im Falle einer Krankheit eines Angehörigen: „Das macht dich im Kopf fertig und lässt dich losheulen wie ein Schlosshund.“
Eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter
Dirk Michgehl begleitet auch Schüler (maximal zwölf) zu dreitägigen Coachings mit Gefangenen in Justizvollzugsanstalten. „Sie gehen nicht mehr so breitschultrig raus, wenn sie von innen vor einer sechs Meter hohen Mauer gestanden haben und die ständige Geräuschkulisse und den besonderen Knastgeruch wahrgenommen haben.“
Der 53-Jährige hält einen Moment inne, trinkt den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und schildert seine Zukunftspläne: Er beginne eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter in der Forensischen Psychiatrie. „Ich habe dann einen richtigen Beruf, leiste ehrliche Arbeit“, sagt der ehemalige Rockerboss, der den Großteil seines Lebens auf illegale Weise Geld verdient hat. Seine Mitarbeit bei „Gefangene helfen Jugendlichen“ wird er weiterführen. Stolz schwingt aus seiner Stimme. Es sieht so aus, dass Dirk Michgehl in seinem zweiten Lebensabschnitt noch so gerade die Kurve bekommen hat. „Ich will in dem ganzen Minus in meinem Leben etwas Plus machen, auch wenn ich nichts wieder gutmachen kann.“